Heinrich Laufenberg: Kingdom of Heaven (CD)

Stand vf, stand vf, du sele min“

von Wolf­gang-Ar­min Rittmeier

Der gros­se Me­di­ävist Fer­di­nand Seibt hat zu Be­ginn sei­nes be­deu­ten­den Bu­ches „Glanz und Elend des Mit­tel­al­ters“ aus dem Jah­re 1999 die denk­wür­di­ge Aus­sa­ge ge­tä­tigt, dass er nicht hät­te im Mit­tel­al­ter le­ben wol­len, wüss­te man doch heu­te sehr ge­nau, dass Krank­hei­ten, Seu­chen, Ar­mut, Krieg, re­li­giö­ser Wahn, Un­ter­drü­ckung und mensch­li­ches Lei­den die gros­sen Kon­stan­ten je­nes Zeit­rau­mes wa­ren, den man heu­te – je nach Schu­le – zwi­schen dem 6. und dem 15. Jahr­hun­dert nach Chris­tus verortet.
Und doch ist die Ro­man­ti­sie­rung des Mit­tel­al­ters, die einst im 19. Jahr­hun­dert be­gann, auch heu­te noch in vol­lem Schwan­ge. Die Bil­der vom ed­len Re­cken, der schö­nen Jung­frau, der trut­zi­gen Fes­te, vom bun­ten Tur­nier, dem welt­ver­ges­se­nen Klos­ter, dem rau­en und den­noch gu­ten Le­ben sind tief ins kol­lek­ti­ve Be­wusst­sein der Po­pu­lär­kul­tur ein­ge­brannt und wer­den in Bel­le­tris­tik, Mu­sik, Film und Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten wie der „So­cie­ty of Crea­ti­ve Ana­chro­nism“ im­mer wie­der wohl­feil bedient.

Kein romantisierender Mittelalter-Kitsch

Kingdom of Heaven - Musik von Heinrich Laufenberg und seinen Zeitgenossen, Ensemble Dragma

Nicht, dass die vor­lie­gen­de CD ro­man­ti­sie­ren­der Mit­tel­al­ter-Kitsch wäre. Die Pro­duk­ti­on – die si­cher nur zu­fäl­lig den Ti­tel mit ei­ner Kreuz­fah­rer­schmon­zet­te von Rid­ley Scott aus dem Jah­re 2005 teilt – ist durch und durch hoch­klas­sig und aka­de­misch im bes­ten Sin­ne, be­steht das En­sem­ble Drag­ma mit Agnie­ska Bud­zińs­ka-Ben­nett (Ge­sang, Har­fe, Dreh­lei­er), Jane Acht­mann (Viel­le, Glo­cken) und Marc Le­won (Ge­sang, Plek­trumlau­te, Viel­le) doch aus drei ar­ri­vier­ten Spe­zia­lis­ten für mit­tel­al­ter­li­che Mu­sik. Sie kon­zen­triert sich the­ma­tisch auf das Werk von Hein­rich Lau­fen­berg, je­nes ale­man­ni­schen Mön­ches, der wohl um das Jahr 1390 in Frei­burg im Breis­gau ge­bo­ren wur­de und am 31. März 1460 in Jo­han­ni­ter­klos­ter zu Strass­burg ver­stor­ben ist. Hin­zu tre­ten Wer­ke zeit­ge­nös­si­scher Liederdichter.

Laufenberg-Lieder im Deutsch-Französischen Krieg 1870 zerstört

Heinrich von Laufenberg (aus der Handschrift des Buchs der Figuren, die 1870 in Strassburg verbrannt ist)
Hein­rich von Lau­fen­berg (aus der Hand­schrift des Buchs der Fi­gu­ren, die 1870 in Strass­burg ver­brannt ist)

Dass wir heu­te über­haupt Lie­der von Hein­rich Lau­fen­berg hö­ren kön­nen, grenzt an ein Wun­der, sind die mit­tel­al­ter­li­chen Co­di­ces, die sei­ne Lie­der ur­sprüng­lich ent­hiel­ten (es wa­ren wohl um die 120 Stück), doch beim An­griff auf Strass­burg im Deutsch-Fran­zö­si­schen Krieg 1870 zer­stört wor­den. Kurz vor­her je­doch hat­te der Kir­chen­lied­for­scher Phil­ipp Wa­cker­na­gel in ei­ner um­fang­rei­chen Edi­ti­on Lau­fen­bergs Tex­te her­aus­ge­ge­ben. Auch sind über vie­le un­ter­schied­li­che Wege Me­lo­dien zu 17 Tex­ten auf uns ge­kom­men, so­dass es heu­te mög­lich ist, Lau­fen­berg in Text und Mu­sik zu er­le­ben. Al­ler­dings wis­sen wir – und dar­auf weist Marc Le­won in sei­nem höchst in­for­ma­ti­ven Book­let-Text ganz deut­lich hin – nicht, wie die No­ten dem Text tat­säch­lich zu­zu­ord­nen sind, und zwar weil nur No­ten ohne jeg­li­che Struk­tu­rie­rung oder Text­be­zug über­lie­fert wor­den sind. Zu­dem ist nicht klar, ob die No­ten kom­plett über­lie­fert wur­den oder ob manch eine nicht von ei­nem For­scher des 19. Jahr­hun­derts – eine da­mals durch­weg gän­gi­ge Pra­xis – „nach­emp­fun­den“ wur­de. Die vor­lie­gen­de nun Re­kon­struk­ti­on kann sich durch­weg hö­ren las­sen. So tönt Agnie­ska Bud­zińs­ka-Ben­nett in den der Chris­tus­min­ne zu­ge­hö­ri­gen Lie­dern wie „Es ta­get min­nen­cli­che“ oder im be­rühm­ten „Be­ne­di­ci­te“ des Mönchs von Salz­burg förm­lich wie vom Him­mel her, so glatt, gleis­send hell und den­noch mit ei­ner ge­wis­sen Grund­wär­me tim­briert klingt ihr Stim­me. Aus­ge­spro­chen an­re­gend und ab­wechs­lungs­reich ge­stal­tet auch Mark Le­won sei­ne Lie­der, bei­spiels­wei­se „Ein le­rer rúft vil lut „, ei­nem Dis­kurs über das rech­te Le­ben und den rech­ten Glauben.

Technisch und gestalterisch niveauvoll

Wolfenbütteler Lautentabulatur - Glarean Magazin
Aus­schnitt der Wol­fen­büt­te­ler Lautentabulatur

Aber auch die In­stru­men­tal­stü­cke, die sich auf die­ser CD fin­den, wer­den von den drei Mu­si­kern des En­sem­ble Drag­ma (die in drei Tracks von Han­na Mar­ti  und Eliza­beth Ram­sey un­ter­stützt wer­den) auf tech­nisch und ge­stal­te­risch höchs­tem Ni­veau mu­si­ziert. Auf ein be­son­de­res Schman­kerl, die die­se CD dem Alte-Mu­sik-Afi­ci­o­na­do bie­tet, muss hier ge­son­dert hin­ge­wie­sen wer­den. Denn ne­ben den Lie­dern und In­stru­men­tal­stü­cken Hein­rich Lau­fen­bergs und sei­ner Zeit­ge­nos­sen bringt die­se Pro­duk­ti­on erst­mals kom­plett jene Stü­cke, die der so­ge­nann­ten „Wol­fen­büt­te­ler Lau­ten­ta­bu­la­tur“ ent­stam­men, ei­ner frag­men­ta­ri­schen Quel­le aus der zwei­ten Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts, die erst vor ein paar Jah­ren ent­deckt wur­de und die äl­tes­te bis­her be­kann­te Lau­ten­ta­bu­la­tur über­haupt dar­stellt. Marc Le­won prä­sen­tiert sei­ne auf sei­ner in­ten­si­ven Be­schäf­ti­gung mit der Ta­bu­la­tur ba­sie­ren­de Re­kon­struk­ti­on. Und auch dies ist ein ech­ter Ohrenschmaus.

Fazit-Rezensionen_Glarean Magazin
Das En­sem­ble Dra­ma prä­sen­tiert mit sei­ner Pro­duk­ti­on „King­dom of He­a­ven“ Lie­der Hein­rich Lau­fen­bergs und sei­ner Zeit­ge­nos­sen so­wie das kom­plet­te Ma­te­ri­al der Wol­fen­büt­te­ler Lau­ten­ta­bu­la­tur. Die at­mo­sphä­risch aus­ge­spro­chen dich­te, her­vor­ra­gend mu­si­zier­te und phi­lo­lo­gisch ex­qui­sit ge­ar­bei­te­te Pro­duk­ti­on kann rund­um und ohne Ab­stri­che emp­foh­len werden.

Und so ist das, was dem Hö­rer hier 78 Mi­nu­ten lang ent­ge­gen­tönt, so der­ar­tig per­fekt mu­si­ziert, dass man am Ende den Ein­druck hat, hier eben doch idea­len Klän­gen aus ei­nem idea­li­sier­ten Mit­tel­al­ter zu lau­schen. Ob die Stim­men und In­stru­men­te ei­nes Mön­ches im kal­ten und zu­gi­gen Klos­ter oder die des über schlam­mi­ge und schlech­te Wege von Wei­ler zu Wei­ler zie­hen­den Spiel­man­nes so ge­schnie­gelt ge­klun­gen ha­ben mö­gen? Der Rea­li­tät nä­her mö­gen wohl René Cle­men­cics Auf­nah­men mit­tel­al­ter­li­cher Mu­sik sein, doch die vor­lie­gen­de CD er­mög­licht es dem Hö­rer, ei­nen Blick ins „King­dom of He­a­ven“ zu erhaschen.♦

King­dom of He­a­ven – Mu­sik von Hein­rich Lau­fen­berg und sei­nen Zeit­ge­nos­sen, En­sem­ble Drag­ma, La­bel Ra­mee (RAM 1402), Audio-CD

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Lau­ten­mu­sik auch über
Frank Mar­tin: Wer­ke mit Gitarre

… so­wie über die CD von
Lo­well Lie­ber­mann: Litt­le Heaven

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