Josten: Auf der Seidenstrasse zur Quelle des Schachs

Bereicherung des Diskurses über den Schach-Ursprung

von Tho­mas Binder

Die Fra­ge nach dem Ur­sprung des kö­nig­li­chen Spiels ge­hört zu den un­ge­lös­ten Pro­ble­men der Kul­tur­ge­schich­te. Als si­cher kann gel­ten, dass das Schach­spiel aus süd­öst­li­cher Rich­tung zu uns ge­langt ist. Alle wei­te­ren De­tails blei­ben bis­her – und wer­den es mög­li­cher­wei­se im­mer blei­ben – im Rei­che der My­then verborgen.

Ge­mein­hin wird der Ur­sprungs­ort in ei­nem rie­si­gen Ge­biet ver­mu­tet, das mit „Chi­na, In­di­en oder Per­si­en“ zu um­schrei­ben wäre. Oft wird so­gar ver­sucht, ei­nen ein­zel­nen Schöp­fer des Spiels zu be­nen­nen. Selbst die be­rühm­te Wei­zen­korn­le­gen­de reiht sich in die­se Über­le­gun­gen ein, ist doch die von Feld zu Feld ver­dop­pel­te Fül­lung des Schach­bretts mit Wei­zen­kör­nern der Lohn für den „Er­fin­der des Schachspiels“.

Die Suche nach den Quellen des Schachspiels

Zu den For­schern, die sich in jün­ge­rer Zeit auf die Su­che nach den Quel­len des Schachs ge­macht ha­ben, zählt die In­itia­tiv­grup­pe Kö­nig­stein. Von 1991 bis 2005 tra­fen sich nam­haf­te in­ter­na­tio­na­le Schach­his­to­ri­ker zu acht Kon­fe­ren­zen. Letzt­lich konn­ten auch sie kei­ne schlüs­si­ge Ant­wort auf die ein­gangs ge­stell­te Fra­ge fin­den. Auf der Home­page http://www.schachquellen.de ist ihr Ver­mächt­nis dokumentiert.
Ei­nes der Mit­glie­der die­ser Grup­pe ist auch der deut­sche Schach­his­to­ri­ker, -kom­po­nist und -schrift­stel­ler Ger­hard Jos­ten. Er legt nun­mehr in Buch­form sei­ne Er­kennt­nis­se und Schluss­fol­ge­run­gen zum The­ma vor.

"Schmelztiegel der Kulturen und Spiele": Das alte Kushan-Reich
„Schmelz­tie­gel der Kul­tu­ren und Spie­le“: Das alte Kushan-Reich

In den Mit­tel­punkt der Über­le­gun­gen stellt er da­bei die Sei­den­stras­se – ei­nen Ober­be­griff für die Han­dels­rou­ten ent­lang de­rer schon um die Zei­ten­wen­de der Kon­takt zwi­schen Eu­ro­pa und (Ost-)Asien sei­nen An­fang nahm. Da­bei wur­den nicht nur Han­dels­gü­ter aus­ge­tauscht, son­dern auch Wis­sen, Ideen, Tech­ni­ken – si­cher aber auch Ge­schich­ten, Kunst, Über­zeu­gun­gen – und ganz ge­wiss auch Spie­le und Spielideen.

Korrektur falscher Vorstellungen über die Seidenstrasse

In ei­nem sei­ner ein­füh­ren­den Ka­pi­tel führt uns Jos­ten in jene Zeit und räumt mit man­chen fal­schen Vor­stel­lun­gen über die Sei­den­stras­se auf. So muss­te man kei­nes­falls den gan­zen Weg vom Mit­tel­meer nach Chi­na auf sich neh­men, um von den Seg­nun­gen die­ser Rou­te zu pro­fi­tie­ren. Viel­mehr wur­den Gü­ter und Ideen über vie­le Zwi­schen­sta­tio­nen un­ter den Völ­kern wei­ter­ge­reicht, da­bei im­mer wie­der ver­än­dert und bereichert.

Gerhard Josten - Seidenstrasse Quelle des Schachs - Synkretismus
Syn­kre­tis­mus als schachis­to­ri­sche Forschungstechnik

Den letzt­ge­nann­ten Pro­zess be­schreibt Ger­hard Jos­ten nun für das Schach­spiel, in­dem er ver­schie­de­ne (Brett-)spiele ins Feld führt, die in den Län­dern ent­lang der Sei­den­stras­se und in de­ren wei­te­rem Ein­fluss­ge­biet ver­brei­tet wa­ren. Er wägt ab, wel­che Ele­men­te da­bei je­weils in das Schach­spiel ein­ge­flos­sen sind, wie sie sich zu ei­nem Spiel ver­ei­nig­ten und er­gänz­ten, das letzt­lich als Ur­form des Schachs an­ge­se­hen wer­den kann. Hier­für ver­wen­det er an zen­tra­ler Stel­le und durch­aus schlüs­sig den aus der Phi­lo­so­phie und Re­li­gi­ons­wis­sen­schaft be­kann­ten Be­griff des Synkretismus.
Den Ort, an dem das Schach­spiel ent­stan­den sein könn­te, be­stimmt Jos­ten im Kush­an­reich, wel­ches in­ner­halb der Sei­den­stras­se eine solch zen­tra­le Po­si­ti­on ein­nimmt, dass es sich als Schmelz­tie­gel der Kul­tu­ren und ih­rer Spie­le of­fen­bar anbietet.

In sich geschlossene Theorie zum Schach-Entstehungsort

Hat der Au­tor da­mit die Fra­ge nach dem Ur­sprung des Schachs ge­löst? Si­cher nicht! Er be­rei­chert aber den Dis­kurs um eine in­ter­es­san­te Hy­po­the­se, die über den ge­nann­ten Ent­ste­hungs­ort hin­aus ver­schie­de­ne neue Ideen ein­bringt. Ob sie dem An­spruch stren­ger Wis­sen­schaft stand­hält, mag der Re­zen­sent nicht be­ur­tei­len. Das ist aber auch se­kun­där, so­lan­ge kei­ne ein­deu­tig schlüs­si­ge­ren Er­klä­rungs­an­sät­ze be­kannt sind.
Die von Jos­ten vor­ge­leg­te Ar­beit ist eine in sich ge­schlos­se­ne Theo­rie – nicht bes­ser und nicht schlech­ter als an­de­re. Das Ver­dienst des Au­tors be­steht dar­in, sei­ne Ideen in eine auch dem Lai­en zu­gäng­li­che Form ge­bracht und un­se­re Sin­ne für das nach wie vor un­ge­lös­te Pro­blem ge­schärft zu haben.
Ob man sei­nen Ge­dan­ken­gän­gen in je­dem Fal­le fol­gen möch­te, bleibt dem Le­ser über­las­sen. An man­chen Stel­len konn­te ich dies je­den­falls nicht bis ins letz­te De­tail tun – so als er zu ei­nem un­voll­stän­dig(!) ge­fun­de­nen Satz von mehr als 4’000 Jah­re al­ten Spiel­stei­nen eine mög­li­che An­ord­nung auf ei­nem 8×8-Brett ab­lei­tet, die na­tür­lich der des heu­ti­gen Schachs sehr ähn­lich ist.

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Ger­hard Jos­ten be­rei­chert mit sei­ner neu­en Mo­no­gra­phie die For­schung zum Ur­sprung des Schachs um eine in­ter­es­san­te Hy­po­the­se. Sei­ne Ideen wer­den schlüs­sig und gut les­bar vor­ge­tra­gen, da­bei pas­send il­lus­triert. Die Kauf­emp­feh­lung für ein­schlä­gig in­ter­es­sier­te Le­ser wird (trotz des recht ho­hen Prei­ses) ger­ne ausgesprochen.

Jos­tens Buch ist an­ge­nehm les­bar ge­schrie­ben. Hier kommt ihm sein für ei­nen Sach­buch­au­tor über­durch­schnitt­li­ches Schreib­ta­lent zu Gute, wel­ches ja schon in Ro­ma­nen er­probt ist. Die Dar­stel­lung ist reich und zweck­mäs­sig il­lus­triert, über­wie­gend mit ar­chäo­lo­gi­schen Fun­den von Spiel­stei­nen und –bret­tern so­wie kar­to­gra­phi­schen Skiz­zen. Da­bei ge­lingt Ger­hard Jos­ten auch der Spa­gat zwi­schen er­fri­schen­der Les­bar­keit und wis­sen­schaft­li­cher Kor­rekt­heit im Um­gang mit Quel­len und Zi­ta­ten. Ers­te­re stam­men oft aus dem In­ter­net. Der Au­tor hat, ob­wohl schon im ach­ten Le­bens­jahr­zehnt ste­hend, die­ses Me­di­um ak­tiv in sei­ne For­schungs­ar­beit ein­be­zo­gen. Zu den Zi­ta­ten ist an­zu­mer­ken, dass eng­lisch­spra­chi­ge in der Re­gel ohne Über­set­zung ste­hen ge­las­sen wurden.

Der Babson Task als Klammer des Buches

Als Klam­mer des Bu­ches dient der so­ge­nann­te  Bab­son-Task – eine Auf­ga­be, die für Schach­kom­po­nis­ten lan­ge Zeit eben­so un­lös­bar schien, wie für die His­to­ri­ker die Fra­ge nach den Quel­len des Schachs. Auf dem Ti­tel­bild prangt (viel­leicht nicht ganz zum The­ma pas­send) die bis­her bes­te Dar­stel­lung hier­zu in ei­ner Auf­ga­be des Rus­sen Leo­nid Ja­rosch. Ge­gen Ende des Bu­ches kommt Jos­ten dar­auf zu­rück. Man mag den Zu­sam­men­hang zur Grund­the­ma­tik et­was be­müht fin­den, als eine wei­te­re An­re­gung zum Wei­ter­for­schen (z.B. im In­ter­net) nimmt der Re­zen­sent die­sen Ex­kurs ger­ne auf.
Der Preis des Bu­ches von knapp 30 Euro er­scheint mir al­ler­dings et­was zu hoch und wird ihm mög­li­cher­wei­se die ver­dien­te Ver­brei­tung un­ter Schach­spie­lern, die gern et­was über den Brett­rand hin­aus­schau­en, erschweren. ♦

Ger­hard Jos­ten: Auf der Sei­den­stras­se zur Quel­le des Schachs, Di­plo­mica Ver­lag Ham­burg, 139 Sei­ten, ISBN 978-3842892194

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Schach-Ge­schich­te auch über Cais­sa: Zeit­schrift für Schach- und Brettspielgeschichte

… so­wie aus der his­to­ri­schen Ru­brik „Heu­te vor … Jah­ren: „Max Euwe wird Schach-Weltmeister

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