Elif Shafak: Ehre (Roman)

Rosarotes Schicksal und Genug Schönheit

von Gün­ter Nawe

Sie heis­sen Pem­be Ka­der und Ja­mi­la Ye­ter – die Zwil­lings­schwes­tern. „Na­men wie Zu­cker­wür­fel“, fin­det ihr Va­ter, „süss und ge­schmei­dig und ohne schar­fe Kan­ten“. Über­setzt be­deu­ten die Na­men Ro­sa­ro­tes Schick­sal und Ge­nug Schön­heit. No­men est omen. Die Schwes­tern wur­den 1945 „in ei­nem Dorf an den Ufern des Eu­phrat“, in Kur­di­stan, ge­bo­ren. Ihre Ge­schich­te er­zählt die preis­ge­krön­te tür­ki­sche Au­torin Elif Shafak in ih­rem neu­en Ro­man „Ehre“. Und sie macht dies auf meis­ter­haf­te Weise.

Gefangen in alten Traditionen

Elif Shafak: Ehre (Roman) - Kein & Aber VerlagEhre! – „Män­ner be­sas­sen Ehre… Frau­en be­sas­sen kei­ne Ehre, sie be­sas­sen Scham. Und ‚Scham’, das wuss­te je­der, wäre ein ziem­lich schlech­ter Name“. Und die Ge­schlech­ter ha­ben eine Far­be: Män­ner sind schwarz, Frau­en sind weiss. Und die weis­se Flä­che ver­zeiht kei­nen Schmutz. Je­der Fleck an feh­len­der Be­schei­den­heit und Un­ter­wür­fig­keit, jede Ab­wei­chung von der Keusch­heit ist so­fort für alle sicht­bar. Das wer­den auch die bei­den Schwes­tern  er­fah­ren. Pem­be wird „aus Ehre“ mit Adem ver­hei­ra­tet, ver­lässt ihre Hei­mat in Rich­tung Is­tan­bul und geht dann end­gül­tig mit ih­rer Fa­mi­lie nach Lon­don. Ihre Schwes­ter da­ge­gen bleibt „eh­ren­haft“ in ih­rer Hei­mat und lebt dort ein Le­ben als eine un­ver­hei­ra­te­te Frau, ge­fan­gen in den al­ten Traditionen.
Pem­be ver­sucht, im fer­nen Lon­don mit ih­rem Mann und ih­ren drei Kin­dern ein er­füll­tes Le­ben in ei­nem an­de­ren, in ei­nem mo­der­nen Kul­tur­kreis zu le­ben. Dass dies nicht ge­lingt, macht die Tra­gik die­ses Ro­mans aus. Ge­schei­ter­te Hoff­nun­gen, Ver­rat und Ver­lust – ein schö­ner Traum ist sehr schnell aus­ge­träumt. Da ist ein­mal die frem­de Welt, die mit ih­rem li­be­ra­len und frei­zü­gi­gen Le­bens­ver­ständ­nis ver­stört. Da sind an­de­rer­seits die Fa­mi­lie und die pa­tri­ar­cha­li­schen Struk­tu­ren. Die Kin­der wer­den „flüg­ge“, ihr Mann ist ein Zo­cker, der sich zu­dem noch in ei­ner an­de­ren Frau, ei­ner Nackt­tän­ze­rin, ver­fällt und die Fa­mi­lie ver­lässt. Und Pem­be be­geg­net ei­nem hei­mat­lo­sen Koch, Sie ver­liebt sich in ihn, sie trifft sich heim­lich mit ihm – und weiss, dass sie da­mit ge­gen den Eh­ren­co­dex ih­rer Re­li­gi­on und Kul­tur ver­stösst. Kein „ro­sa­ro­tes Schick­sal“ also. Und am Ende steht ein un­be­greif­li­cher Mord aus „Ehre“ – be­gan­gen von dem Sohn Is­ken­der an sei­ner Mut­ter. Eine „Eh­ren­sa­che“!

Wunderbar klare, nahezu sinnliche Sprache

Der Kein&Aber-Verlag legt mit "Ehre" von Elif Shafak einen wundervoll klar gegliederten und beinahe sinnlich geschriebenen Roman vor.
Der Kein&Aber-Verlag legt mit „Ehre“ von Elif Shafak ei­nen wun­der­voll klar ge­glie­der­ten und bei­na­he sinn­lich ge­schrie­be­nen Ro­man vor.

Elif Shafak schreibt eine wun­der­bar kla­re, eine na­he­zu sinn­li­che Spra­che, die den Le­ser so­fort ge­fan­gen nimmt. Sehr sen­si­bel und mit viel Em­pa­thie be­glei­tet sie ihre Fi­gu­ren durch das Roman­ge­sche­hen. Und pa­ckend und aus­drucks­stark schil­dert die Au­torin den Kon­trast zwi­schen tür­kisch-is­la­mi­scher Tra­di­ti­on und bri­tisch-west­li­cher Lebenswelt.
Im fer­nen Kur­di­stan lebt Ja­mi­la „Ge­nug Schön­heit“ – auch sie ge­fan­gen in ih­rer Le­bens­welt – ein an­de­res Le­ben als Heb­am­me und Hei­le­rin, fest ver­wur­zelt in den Tra­di­tio­nen ei­ner is­la­mi­schen Män­ner­ge­sell­schaft. Einst war sie ver­liebt in Adem und er in Ja­mi­la. Aber die­se Ver­bin­dung durf­te nicht sein, weil auch ihre Ehre „be­schmutzt“ war. So geht es in die­sem Le­ben auch für sie nicht ohne Ver­let­zun­gen ab.

Familienepos und Generationsroman

Elif Shafak - Autorin Schriftstellerin - Glarean Magazin
„Wun­der­bar sinn­li­che Spra­che“: Elif Shafak

Im stän­di­gen Kon­takt der Zwil­lings­schwes­tern weiss Ja­mi­la um das Le­ben von Pem­be. Und so ahnt die sen­si­ble Ja­mi­la, dass sich in Lon­don, dass sich für Pem­be Un­heil an­bahnt. Sie macht sich aus schwes­ter­li­cher Lie­be auf nach Lon­don. Ob sie ret­ten kann, was nicht zu ret­ten ist, sei an die­ser Stel­le dahingestellt.
Elif Shafak er­zählt die­se Ge­schich­te als ein Fa­mi­li­en­epos und ei­nen Ge­ne­ra­ti­ons­ro­man, fast in Epi­so­den­form und wech­selt häu­fig die Zeit­ebe­nen und die Sicht­wei­sen auf das Ge­sche­hen. So hält sie den Span­nungs­pe­gel hoch. Die Schil­de­rung des Le­bens der Prot­ago­nis­ten, alle durch­weg sehr kom­ple­xe Cha­rak­te­re, im Wi­der­streit zwi­schen Is­lam und west­li­chen Le­bens­sti­len ge­lingt der er­folgs­ge­wohn­ten tür­ki­schen, in Strass­burg ge­bo­re­nen Schrift­stel­le­rin hervorragend. ♦

Elif Shafak: Ehre, Ro­man, Kein&Aber-Verlag, 528 Sei­ten, ISBN 978-3036956763

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Fa­mi­li­en-Epos auch über den
Ro­man von Bo­ris Kál­no­ky: Ahnenland

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