Sokolov: Gewinnen in d4-Bauernstrukturen (Schach)

Verständnis für die Bauern

von Mario Ziegler

Nein, es geht in der fol­gen­den Rezen­sion nicht um die Agrar­po­li­tik der EU, und auch nicht um die Situa­tion des Drit­ten Stan­des in den Revo­lu­ti­ons­jah­ren 1525 oder 1848. Viel­mehr soll das neue Stra­te­gie­buch “Die hohe Schule des Mit­tel­spiels” – Gewin­nen in d4-Bau­ern­struk­tu­ren – bespro­chen wer­den, in dem die Bau­ern auf dem Schach­brett eine ent­schei­dende Rolle spielen.

Sein Autor Ivan Soko­lov ist in der Welt des Schachs eine bekannte Per­sön­lich­keit. Der 1968 im bos­ni­schen Jajce bei Banja Luka gebo­rene Gross­meis­ter ver­trat 1988 und 1990 Jugo­sla­wien bei den Schach­olym­pia­den in Thes­sa­lo­niki und Novi Sad, wobei er 1988 mit sei­ner Mann­schaft die Bron­ze­me­daille errin­gen konnte. 1993 ver­liess er wäh­rend des Bür­ger­krie­ges seine Hei­mat und emi­grierte in die Nie­der­lande. Mit der nie­der­län­di­schen Aus­wahl errang er unter ande­rem den Sieg bei der Mann­schafts-Euro­pa­meis­ter­schaft 2005 in Göte­borg. Seit 2009 ist er für den bos­ni­schen Schach­ver­band spiel­be­rech­tigt. Neben die­sen Erfol­gen und neben zahl­rei­chen Sie­gen bei bedeu­ten­den Tur­nie­ren trat er durch einige hoch­ge­lobte Schach­bü­cher her­vor. 2009 erschien sein Werk “Win­ning Chess Midd­le­ga­mes: An Essen­tial Guide to Pawn Struc­tures”, das nun in deut­scher Spra­che vor­liegt und Gegen­stand der vor­lie­gen­den Bespre­chung sein soll.

Konzentration auf Nimzoindisch

Der Unter­ti­tel “Gewin­nen in d4-Bau­ern­struk­tu­ren” könnte in die Irre füh­ren. Soko­lov will kei­nes­wegs alle d4-Eröff­nun­gen oder auch nur einen reprä­sen­ta­ti­ven Quer­schnitt beleuch­ten, son­dern kon­zen­triert sich auf die Nim­zo­in­di­sche Ver­tei­di­gung 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4. Da der Autor ein Experte für diese Eröff­nung ist und ihr kürz­lich eine Mono­gra­phie gewid­met hat (“The stra­te­gic Nimzo-Indian. Vol. 1: A com­plete guide to the Rubin­stein Varia­tion”, Alk­maar 2012), ist dies eine nahe­lie­gende Wahl. Zudem kann man Soko­lov zustim­men, wenn er for­mu­liert (S. 11): “Abge­se­hen davon, dass ein Ver­ständ­nis die­ser [der im Buch beleuch­te­ten] Stel­lun­gen für alle, die mit Weiss 1.d2-d4 oder mit Schwarz Nim­zo­in­disch spie­len, von Nut­zen ist, haben die nach­ste­hen­den kom­men­tier­ten Par­tien den zusätz­li­chen prak­ti­schen Wert, dass sie defi­ni­tiv das Eröff­nungs­wis­sen des Lesers ver­bes­sern wer­den, was sich sofort in der Tur­nier­pra­xis nie­der­schla­gen kann.”

Auf den Pfaden Philidors

Das Zau­ber­wort des Buches lau­tet “Bau­ern­struk­tur”. Dass das Ver­ständ­nis typi­scher Struk­tu­ren in einer bestimm­ten Eröff­nung grosse Bedeu­tung besitzt, brachte bereits 1749 der grosse André Phil­i­dor in sei­nem berühm­ten Satz “Die Bau­ern sind die Seele des Schach­spiels” (“… les Pions. Ils sont l’âme des Echecs …”) zum Aus­druck. Soko­lov bedient sich jün­ge­rer Bei­spiele, wenn er an das Schaf­fen der Welt­meis­ter Kar­pow, Kas­pa­row und Kram­nik (S. 9) und seine eigene Pra­xis erin­nert: “Über meine gesamte Kar­riere hin­weg habe auch ich in den Stel­lun­gen, die ich gut ver­stand, eine ordent­li­che Punkt­aus­beute erzielt und den Preis dafür bezahlt, dass ich in mei­ner Stur­heit die Fin­ger nicht von den Stel­lungs­ty­pen, die mir nicht lagen, las­sen konnte.”

In sei­nem Werk kon­zen­triert sich Soko­lov auf die vier sei­ner Mei­nung nach (vgl. S. 9) wesent­lichs­ten Bau­ern­struk­tu­ren: Dop­pel­bauer, Iso­lani, Hän­gende Bau­ern und Bau­ern­ma­jo­ri­tät. Alle diese For­men sind noch wei­ter dif­fe­ren­ziert nach soge­nann­ten Basis­struk­tu­ren. Dies sieht fol­gen­der­mas­sen aus (ver­deut­licht am Bei­spiel der Hän­gen­den Bau­ern, S. 179f.):

Struktur 3_1Struk­tur 3.1

Struktur 3_2Struk­tur 3.2

Beide Struk­tu­ren ver­deut­li­chen einen weis­sen Stan­dard­plan: Abtausch auf e6, was fxe6 erzwingt, danach e3-e4, was Schwarz ein posi­tio­nel­les Zuge­ständ­nis abnötigt.

Struktur 3_3Struk­tur 3.3

Weiss führt sei­nen Plan e3-e4 aus, ohne vor­her auf e6 einen Figu­ren­tausch vor­ge­nom­men zu haben.

Struktur 3_4Struk­tur 3.4

…demons­triert einen schwar­zen Stan­dard­plan: …d5-d4, was die dyna­mi­schen Mög­lich­kei­ten der hän­gen­den Bau­ern zur Gel­tung bringt.

Auf reichhaltige Erfahrung zurückgegriffen

Die ein­zel­nen Basis­struk­tu­ren wer­den durch ins­ge­samt 45 Par­tien beleuch­tet, die den Zeit­raum zwi­schen 1938 (Bot­win­nik-Tschechower, Lenin­grad) und 2008 (Topa­low-Aron­jan, Morelia/Linares) abde­cken. Soko­lov selbst ist mit 12 Par­tien ver­tre­ten. Dass er immer wie­der seine eige­nen Erfah­run­gen ein­flies­sen lässt, macht ein gros­ses Plus des Wer­kes aus. Soko­lov zeigt sehr ein­drucks­voll, wie er selbst in einer bestimm­ten Posi­tion vor­ging, und spart dabei auch nicht mit Selbst­kri­tik, wenn er fal­sche Wege beschritt. Hierzu ein Bei­spiel aus sei­ner Weis­spar­tie gegen Dar­ryl Johan­sen bei der Olym­piade Manila 1992:

Sokolov vs Johansen
Soko­lov – Johan­sen (Olym­piade 1992)

Hier setzte Soko­lov mit 13.Tb1 fort, was er mit einem “?!” brand­markt. In sei­nen Anmer­kun­gen erläu­tert er diese Kri­tik am schein­bar nahe­lie­gen­den Zug, der den Turm auf die halb­of­fene Linie stellt (S. 15): “Für der­ar­tige Stel­lun­gen ist es typisch, dass Weiss sei­nen Raum­vor­teil und Ent­wick­lungs­vor­sprung zur Ent­fal­tung von Initia­tive nut­zen muss, bevor seine struk­tu­rel­len Män­gel sich bemerk­bar zu machen begin­nen. 13.f4! war ein guter und ener­gi­scher Anfang … In der Par­tie sah ich schon die mit 13.f4! asso­zi­ier­ten Mög­lich­kei­ten, dachte aber, dass ich mit Weiss gegen irgend­ei­nen Aus­tra­lier mit einer Elo-Zahl von noch nicht ein­mal 2500 nur ‚regu­läre‘ Züge zu machen brauchte und sich der Sieg ohne grosse Risi­ken wie von selbst ein­stel­len sollte. Eine sol­che Denk­weise ist viel­leicht in einem Abspiel der Kata­la­ni­schen Eröff­nung mit Weiss ver­tret­bar, aber nicht in die­sem Typ von Nimzoinder.”

Herausforderung für den Leser

Neben sol­chen all­ge­mei­nen Über­le­gun­gen geht Soko­lov jedoch auch in die Tiefe. Seine Ana­ly­sen zu bestimm­ten Zügen kön­nen durch­aus mehr als eine Spalte ein­neh­men, so dass der Leser bereit sein muss, einige Zeit und Mühe für die Arbeit mit dem Buch auf­zu­wen­den. Der eng­li­sche Gross­meis­ter Michael Adams weiss offen­sicht­lich, wovon er spricht, wenn er in sei­nem Vor­wort anmerkt (S. 8): “Ver­eins­spie­ler soll­ten sich nicht ent­mu­ti­gen las­sen, wenn der Vari­an­ten­wust mit­un­ter etwas beängs­ti­gend erscheint.” Um einen Ein­blick in Soko­lovs Ana­ly­sen zu geben, bot sich ein Ver­gleich an. Auf S. 89ff. wird zum Thema “Das Spiel gegen einen iso­lier­ten Bau­ern” die Par­tie Iwant­schuk-Aron­jan, More­lia 2007, unter­sucht. Zu die­ser Par­tie liegt neben der Ana­lyse von Mihail Marin in der “Mega­Base” der Firma Chess­Base auch eine Unter­su­chung von Niko­lai Kali­ni­chenko in sei­ner kürz­lich ver­öf­fent­lich­ten Mono­gra­phie über Iwant­schuk vor (“Vas­sily Ivan­chuk. 100 Sel­ec­ted Games, Alk­maar 2013, S. 152ff.). Es war ein reiz­vol­les Unter­neh­men, die Gedan­ken­gänge und Arbeits­wei­sen der drei Gross­meis­ter zu vergleichen.

Iwantschuk-Aronjan
Iwant­schuk-Aron­jan (More­lia 2007)

Dies ist die Stel­lung nach dem 16. Zug von Schwarz. Iwant­schuk spielte nun das über­ra­schende 17. Tcc1
Soko­lov erklärt – ebenso wie Marin – die Idee die­ses Zuges: “Weiss behält die Türme auf dem Brett, um den schwa­chen Bau­ern d5 aufs Korn neh­men zu kön­nen. Schwarz kann sei­ner­seits aus der Kon­trolle der c-Linie kein Kapi­tal schla­gen.” Die drei Kom­men­ta­to­ren sind sich aber ansons­ten über den Wert des Zuges und damit ver­bun­den die Bewer­tung der Stel­lung nicht einig. Soko­lov und Kali­ni­chenko wer­ten den Rück­zug des Turms als sehr stark (!! bzw. !), wäh­rend sich Marin mit !? begnügt. Im Ver­gleich zu sei­nen Kol­le­gen kri­ti­siert er in der Folge das schwarze Spiel deut­lich stärker.
17…Tfc8
Die­ser Zug bleibt von Soko­lov unkom­men­tiert, wäh­rend Kali­ni­chenko und Marin auf die Mög­lich­keit 17…Txc1+ ver­wei­sen. Kali­ni­chenko hält die­sen Abtausch, der die Stel­lung wei­ter ver­ein­facht, für eine ernst­zu­neh­mende Alter­na­tive, Marin sogar für die bes­sere Fort­set­zung, wes­halb er den Par­tie­zug 17…Tfc8 mit einem ?! versieht.
18.Td1 Tc2 19.Lb5 Sf8 20.Tab1 T2c7 21.La4 Se6 22.Lb3 Kf8 23.h3
Soko­lov: “Weiss will den Bau­ern d5 zu sei­nen eige­nen Bedin­gun­gen neh­men. Das sofor­tige Schla­gen die­ses Bau­ern würde zu einem remis­li­chen End­spiel füh­ren: 23.¥xd5?! ¥xd5 24.¦xd5 ¦c1+ 25.¦d1 ¦xb1 26.¦xb1 ¦c2, und dank sei­nes akti­ven Turms sollte Schwarz die Stel­lung hal­ten kön­nen.” Beide ande­ren Kom­men­ta­to­ren über­ge­hen diese Variante.
23…Tc5 24.Kh2
Die­sen Zug hebt Soko­lov als ein­zi­ger beson­ders her­vor, indem er ihn mit !! schmückt und anmerkt: “Weicht dem Schach auf c1 aus, um auf der d-Linie die Türme zu ver­dop­peln. Es ist sehr wich­tig für Weiss, alle vier Türme auf dem Brett zu behalten.”
24…Ke7 25.Td2 Tb5 26.La2 Tbc5 27.Se1 a5
Als ein­zi­ger ana­ly­siert Soko­lov die Fort­set­zung 27…Tc1, die jedoch Schwarz nicht aus sei­nen Schwie­rig­kei­ten geret­tet hätte.
28.Tbd1 Td8 29.Kg3 Tb5 30.f3 Tc8
Wird von allen Kom­men­ta­to­ren als Feh­ler gekenn­zeich­net, allen­falls in der Frage, ob 30…Sc5 (Soko­lov) oder 30…Tc5 (Kali­ni­chenko, Marin) hart­nä­cki­ge­ren Wider­stand ver­sprach, gibt es Diskrepanzen.
31.Sd3!
“Wegen der Dro­hung 32.a4 mit Turm­fang muss Schwarz einen Bau­ern geben.” (Soko­lov). Nicht ein­ge­gan­gen wird auf die (unzu­rei­chende) Ver­tei­di­gung 31…a4, die Kali­ni­chenko und Marin ana­ly­sie­ren. Auch bei den rest­li­chen Zügen der Par­tie hält sich Soko­lov deut­lich knap­per als die bei­den ande­ren Ana­ly­ti­ker, was aber ange­sichts sei­ner Ziel­set­zung – Bespre­chung eines bestimm­ten Stel­lungs­typs – ver­ständ­lich ist. Für eine sol­che Erör­te­rung sind die rest­li­chen Züge nicht mehr relevant.
31…d4 32.Lxe6 Kxe6 33.Sf4+ Ke7 34.Txd4 Tc7 35.T1d2 Tbc5 36.e4 Tc4 37.Td6 T4c6 38.e5 Tc2 39.Txc2 Txc2 40.Txb6 Lc6 41.b4 g5 42.Sh5 axb4 43.axb4 Ld5 44.Sg7 Te2 45.Sf5+ Ke8 46.Sxh6 Le6 47.Tb5 Tb2 48.Tb8+ Kd7 49.Tg8 1–0

Für geübte Vereinsspieler geschrieben

An wen richtet sich Sokolovs
An wen rich­tet sich Soko­lovs “Gewin­nen in d4-Bau­ern­struk­tu­ren”? Ziel­gruppe sind die geüb­ten Ver­eins­spie­ler, da sowohl das Thema der Basis­struk­tu­ren als auch die Tiefe der Ana­ly­sen eine geho­bene Spiel­stärke vor­aus­set­zen. Dar­über hin­aus ist das Buch für jeden Nim­zo­in­disch-Spie­ler (mit weiss und mit Schwarz) grund­le­gend. Über­haupt ist zu wün­schen, dass der Aspekt der cha­rak­te­ris­ti­schen Bau­ern­struk­tu­ren in künf­ti­gen Lehr­bü­chern noch stär­ker Berück­sich­ti­gung finde.

An wen rich­tet sich Soko­lovs Werk? Ganz offen­sicht­lich ist die Ziel­gruppe die­je­nige der geüb­ten Ver­eins­spie­ler, da sowohl das Thema der Basis­struk­tu­ren als auch die Tiefe der Ana­ly­sen eine geho­bene Spiel­stärke vor­aus­set­zen. Dar­über hin­aus sollte das Buch für jeden Nim­zo­in­disch-Spie­ler grund­le­gend sein, ebenso für Weiss­spie­ler, die sich mit den unter­such­ten Struk­tu­ren des Nim­zo­in­ders her­um­schla­gen müs­sen. Für diese Spie­ler wird “Die hohe Schule des Mit­tel­spiels im Schach” ein her­vor­ra­gen­des Hilfs­mit­tel zum bes­se­ren Ver­ständ­nis der typi­schen Mit­tel­spiel­po­si­tio­nen sein. Es ist zu wün­schen, dass der Aspekt der cha­rak­te­ris­ti­schen Bau­ern­struk­tu­ren in künf­ti­gen Lehr­bü­chern noch stär­ker Berück­sich­ti­gung fin­den wird. ♦

Ivan Soko­lov: Die hohe Kunst des Mit­tel­spiels im Schach – Gewin­nen in d4-Bau­ern­struk­tu­ren, New in Chess, 288 Sei­ten, ISBN 978-90-5691-432-5

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema „Schacher­öff­nun­gen“ auch über Kars­ten Mül­ler & Rai­ner Knaak: 222 Eröffnungsfallen

Außer­dem zum Thema Schach-Par­tien­samm­lun­gen: Brekke & Olaf­s­son – The Chess Saga Of Fri­d­rik Olafsson


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