Christian Urech: Drei Märchen (Grotesken)

Es war einmal…

Christian Urech

… ein einsamer Buchstabe

der zu den Zei­ten von Na­po­le­ons Russ­land-Feld­zug ein­fach in den kar­gen Wei­ten der si­bi­ri­schen Step­pen ver­ges­sen wor­den war und seit­her in der un­zi­vi­li­sier­ten Na­tur des Nor­dens umherirrte.
Es war ein fran­zö­si­scher Buch­sta­be, wohl­ge­spro­chen, ein Buch­sta­be, der in den Wör­tern der feins­ten Pa­ri­ser Sa­lons ver­kehrt hat­te, und dies schon vor der Re­vo­lu­ti­on. Er war durch die süs­se Keh­le der Ma­rie An­toi­net­te ge­gan­gen, in ei­nem Ro­ko­ko­schlöss­chen. Mo­liè­re hat­te ihn auf die Büh­ne ge­bracht, der Papst ihn urbi et orbi un­ter der christ­li­chen Mensch­heit verbreitet.
Und jetzt? So al­lein, so al­lein! Seit Jahr­zehn­ten, Jahr­hun­der­ten – allein.
Nur ein­mal, da hat­te er sich in den Mund ei­nes be­sof­fe­nen rus­si­schen Bau­ern ver­irrt, der ihn aber al­so­gleich mit ei­nem wüs­ten Fluch wie­der in die Ver­ban­nung hinausbeförderte.
Was be­weist, dass man­chen ein­sa­men Buch­sta­ben nichts wei­ter fehlt als ein gu­tes Wort. ♦

… eine Tomate

die war sehr sen­si­bel und schüch­tern, so dass sie si­cher er­rö­tet wäre, wenn ihr je­mand ein Kom­pli­ment ge­macht hät­te – und wenn sie über­haupt noch hät­te rö­ter wer­den kön­nen, als sie es schon war. Es war näm­lich eine schö­ne, saf­ti­ge, son­nen­ge­reif­te Tomate.
Na­tür­lich gab es ge­nü­gend bru­ta­le Men­schen, die nur zu ger­ne in sie hin­ein­ge­bis­sen hät­ten. Aber die To­ma­te, die zwar sen­si­bel, je­doch nicht im Min­des­ten ma­so­chis­tisch ver­an­lagt war, hat­te ei­nen ge­sun­den Über­le­bens­trieb. So roll­te sie – nach ei­ner an der Mut­ter­pflan­ze glück­lich ver­leb­ten Ju­gend (und an­schlies­send ge­lan­det auf dem Ge­mü­se­stand ei­nes ita­lie­ni­schen Bau­ern) – ein­fach toll­kühn davon.
Sie roll­te mit dem un­ver­schäm­ten Glück der Nai­ven quer durch den Mo­loch Flo­renz, in des­sen Ki­nos per­fi­der­wei­se der neu­es­te Hol­ly­wood-Strei­fen mit dem Ti­tel „An­griff der Kil­ler­to­ma­ten“ ge­zeigt wur­de. Roll­te also da­von, ohne von Au­tos zer­quetscht, von Füs­sen zer­tram­pelt oder von Po­li­zis­ten ein­ge­fan­gen und als Bei­la­ge zu ei­nem Früh­stücks­sand­wich ge­schei­belt zu wer­den. Sie roll­te da­von und raus aus der Stadt, in die fried­li­chen Fel­der der Tos­ca­na hinein.
Es war ein über­aus son­ni­ger, heis­ser Tag. Un­se­re sen­si­ble To­ma­te wur­de müde und woll­te ein klei­nes Schläf­chen halten.
Man ahnt schon, wie die Ge­schich­te en­det. Mat­schig und fau­lig wer­dend, über­leb­te sie die Si­es­ta in dem tro­cke­nen Staub wohl kaum.
Was be­weist, dass das Le­ben der To­man­ten so oder so kurz und tra­gisch ist. ♦

… ein armer Mann

des­sen Herz war so schwer wie ein Sack vol­ler Stei­ne, denn er hat­te eine sie­ben­köp­fi­ge Fa­mi­lie zu er­näh­ren und kei­ne Ar­beit und kein Geld. Da er in ei­nem Land wohn­te, in dem al­les an­de­re leich­ter zu be­kom­men war als gu­tes und reich­li­ches Es­sen – die meis­ten Nah­rungs­mit­tel muss­ten an die rei­chen Län­der des Nor­dens ver­kauft wer­den, um ir­gend­wel­che Schul­den zu­rück­zah­len zu kön­nen, von de­nen der arme Mann kei­ne Ah­nung hat­te, wie sie zu­stan­de­ge­kom­men wa­ren -, hielt er die Erde für eine öde Wüs­te oder für ei­nen trü­ben Sumpf, das Le­ben aber für eine Art Auf­nah­me­prü­fung: die hö­he­re Schu­le war das Pa­ra­dies, der Him­mel die Götter.
Si­cher­lich hat­te der arme Mann in die­sem Pa­ra­dies ei­nen an­de­ren Kör­per als hier auf Er­den. Ei­nen stär­ke­ren, wi­der­stands­fä­hi­ge­ren, und mit schär­fe­ren Pran­ken, spit­ze­ren Zäh­nen. Die Welt im Him­mel ist ru­hig wie ein Stück sich selbst über­las­se­ne Na­tur, nur er­füllt von der Mu­sik der sin­gen­den Vö­gel, vom Schnat­tern, Seuf­zen, Stöh­nen, Pfei­fen, Schnau­ben, Stamp­fen und Ra­scheln der le­ben­di­gen Kreatur.
Der arme Mann, wel­cher jetzt schön ist und stark, des­sen Haut bron­zen glänzt, und des­sen Haar schim­mert wie Gold, die­ser arme Mann bahnt sich mit sei­nem sil­ber­nen Schwert ei­nen Weg durch die­se grü­ne, fried­li­che, damp­fen­de, stamp­fen­de, ra­scheln­de Welt. Er schrei­tet vor­an wie ein Kö­nig, ein Ad­li­ger, ein Aus­er­wähl­ter, ein Sohn Got­tes. Er ist die Kro­ne der Schöp­fung, un­be­tei­ligt mit­füh­lend, ein Wis­sen­der und trotz­dem Un­schul­di­ger, ein Teil und doch teil­ha­bend am Ganzen.
Mit­ten im damp­fen­den, ko­chen­den Ur­wald steht ein wun­der­schö­nes Schloss, ein Schloss mit ei­ner üp­pi­gen Ar­chi­tek­tur, ein La­by­rinth aus Tür­men, Bo­gen, Qua­dern, Py­ra­mi­den, die künst­lich auf­ein­an­der­ge­türm­ten Stei­ne fast na­tur­haft oder zu­min­dest äus­serst raf­fi­niert die Na­tur nach­ah­mend, ein Mär­chen­schloss auf dem Grun­de des Meeres.
Und er be­tritt durch ein bo­gen­för­mi­ges Tor das Schloss, der arme, nun­mehr reich­ge­wor­de­ne Mann, kein Mensch be­geg­net ihm, nur da­von­hu­schen­des Ge­tier. Und er geht durch lan­ge Gän­ge, vor­bei an bo­gen­för­mi­gen Fens­tern, vor de­nen fried­lich, tief­grün, wo­gend und bro­delnd die Welt liegt. Er ver­liert sich ganz in die­sem end­lo­sen Ge­hen. Sein Kopf ist leer, die Ge­dan­ken sind Grös­se­rem ge­wi­chen. Er ist nur noch lee­res Bam­bus­rohr, In­stru­ment des Absoluten.
Da, plötz­lich, ganz un­ver­hofft öff­net sich der Gang in ei­nen of­fe­nen Saal. Die Luft ist aus gol­de­nem, fast flüs­si­gem Stoff. Be­rauscht sinkt der Mann in die­sen Stoff hin­ein, in den Stoff, aus dem die Träu­me sind (Dan­ke, Herr Simmel).
Solch ver­zau­ber­te Wel­ten – die auf­re­gends­ten Mär­chen, Sa­gen und Le­gen­den – gibt es jetzt in ei­ner ein­zig­ar­ti­gen Buch­rei­he. Al­ler­dings muss un­ser ar­mer Mann – will er, was ihm nie­mand ver­den­ken wird, an ihr teil­ha­ben – zu­min­dest le­sen kön­nen und we­nigs­tens das Klein­geld üb­rig ha­ben für den Ein­füh­rungs­band „Das ver­wun­sche­ne Reich“. ♦


Chris­ti­an Urech

Geb. 1955 in Menziken/CH, Ger­ma­nis­tik-Stu­di­um in Bern, viel­jäh­ri­ge Tä­tig­keit als Re­dak­tor und Lek­tor bei ei­nem Ver­lag, Ver­öf­fent­li­chun­gen von Sach­bü­chern und Kri­mi­nal­ro­ma­nen, lebt als Be­rufs­bild­ner, frei­er Jour­na­list und Mar­ke­ting­be­ra­ter in Zürich

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