Angela Mund: Hektor (Philosophische Satire)

Schlaf gut, mein Freund Hektor

Angela Mund

Ver­ab­schie­den sie sich end­lich von ih­rem Idea­lis­mus. Den­ken sie wis­sen­schaft­lich!“ Er sah mich über sei­ne dick­ge­rahm­ten Bril­len­glä­ser hin­weg an. Ich glaub­te zu­min­dest, dass er mich an­sah. Die Gar­di­nen wa­ren zu­ge­zo­gen, in Kom­bi­na­ti­on mit den schwar­zen Mö­beln glich sein Büro eher dem Vor­raum ei­nes Be­stat­tungs­in­sti­tu­tes, und eine mat­te Dun­kel­heit hat­te sich auf un­se­re Ge­sich­ter ge­legt. Ich hat­te ein Stück Fin­ger­na­gel zwi­schen den Zäh­nen und schob es mit der Zun­ge hin und her. „Viel­leicht soll­ten sie mit dem Stu­di­um doch lie­ber auf­hö­ren.“ Erst jetzt fiel mir ein Bild auf, wel­ches schräg hin­ter ihm an der Wand hing: Achil­les steht auf dem Sie­ger­wa­gen, die Zü­gel zwei­mal um die Hän­de ge­schlun­gen, das Kinn vol­ler Stolz ge­gen Tro­ja ge­rich­tet, Hek­tor un­kennt­lich im Staub hin­ter sich her­zie­hend. Ich such­te in der Dun­kel­heit sei­ne Au­gen und er­wi­der­te zö­ger­lich: „Das hat­te ich heu­te ei­gent­lich vor.“ Der Fin­ger­na­gel schwamm nun et­was ver­lo­ren auf mei­ner Zun­ge und mach­te mich nervös.
Das Mäd­chen ne­ben ihm lä­chel­te la­ko­nisch vor sich hin und wa­ckel­te bei je­dem sei­ner Sät­ze be­droh­lich weit mit dem Kopf, als wol­le ihr Hals je­den Mo­ment um­kni­cken wie eine über­dehn­te Lan­ze. Hek­tor war ein Held, er war der ein­zi­ge Krie­ger ge­we­sen, dem es nicht um das Mäd­chen ge­gan­gen war. Er hat­te le­dig­lich sei­ne Hei­mat schüt­zen wol­len, sei­nem Va­ter Ehre er­wei­sen, den fei­gen Bru­der Pa­ris vor der Schan­de der Nie­der­la­ge be­wah­ren und sei­ner Frau das Schick­sal er­spa­ren wol­len, Skla­vin der Achä­er zu wer­den. Er war ein Held, weil er nach sei­nen Prin­zi­pi­en ge­han­delt hat­te, und trotz die­ser un­um­stöss­li­chen Wahr­heit hat­te man sei­nen to­ten Kör­per über das Schlacht­feld ge­zo­gen, an­statt ihn mit Öl zu sal­ben, da­mit die Haut wie Bron­ze glän­zen konnte.
„Wis­sen sie ei­gent­lich, was sie da ge­ra­de ge­sagt ha­ben?“, dröhn­te sei­ne Stim­me ble­chern, als wür­de ein Pferd in eine Me­tal­lu­ren röh­ren. Un­auf­fäl­lig nahm ich den Fin­ger­na­gel aus mei­nem Mund und klemm­te ihn zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger. „Ich habe ih­nen zu er­klä­ren ver­sucht, wor­in das Pro­blem des Seins be­steht.“ Das Mäd­chen ki­cher­te, er zog die Luft scharf ein, Hek­tor dreh­te mir den Rü­cken zu, und der Fin­ger­na­gel lag nun et­was ein­sam vor mir auf der grau­en PVC-Auslage.
„Das Pro­blem des Seins be­steht dar­in, dass es ein Pro­blem der Wis­sen­schaft ge­wor­den ist.“ Man stel­le sich ein­mal das Sein in der Mit­te vor – ich hat­te für die­se Er­klä­rung ex­tra eine Skiz­ze an­ge­fer­tigt -, ne­ben dem Sein be­fan­den sich die wis­sen­schaft­li­chen Fach­be­rei­che fä­cher­ar­tig auf­ge­reiht. Je­der Wis­sen­schaft ord­ne­te ich die je­wei­li­gen Pro­blem­fel­der zu, bei­spiels­wei­se der Psy­cho­lo­gie. Ihr Pro­blem ist, dass sie die Per­sön­lich­keit auf­teilt in 50% Gene, 40% Um­welt und ei­nen Feh­ler­an­teil von 10%, den man als frei­en Wil­len be­zeich­nen muss­te, weil man sonst nichts wei­ter da­mit an­zu­fan­gen wuss­te. Auf der an­de­ren Sei­te be­fand sich die Theo­lo­gie, die ich des­halb als Wis­sen­schaft an­ge­führt hat­te, weil sie ein um­fas­sen­des Er­klä­rungs­sys­tem be­reit­stellt, in­dem die In­stanz Gott das Sein le­gi­ti­miert. Gott of­fen­bart sich je­doch als eine In­stanz, von der man bis heu­te nur sa­gen kann, was sie nicht ist; auch die Theo­lo­gie ver­sucht ihre De­fi­ni­ti­ons­lü­cken durch ne­ga­ti­ve Ka­te­go­rien zu re­tu­schie­ren. Hin­zu kommt die Ma­the­ma­tik, die zwar ex­ak­te For­meln auf­stel­len kann, wel­che aber nur un­ter Aus­schluss un­be­kann­ter Va­ria­blen funk­tio­nie­ren. Zum Schluss hat­te ich noch die Phi­lo­so­phie an­ge­führt, die dar­an schei­tert, dass sie nicht er­klä­ren kann, wor­auf die Wahr­neh­mung des Seins be­ruht und Des­car­tes da­her ei­nen Ho­mun­ku­lus an­nahm, der im Kopf des Men­schen sitzt und für die­sen wahr­nimmt. Die­se war von al­len Er­klä­rungs­fan­ta­sien noch die netteste.
Hek­tor fum­mel­te ner­vös an sei­nen Fuss­fes­seln. Die Dun­kel­heit brei­te­te sich bis in die hin­ters­ten Win­kel des Rau­mes aus, und ich muss­te mei­ne Au­gen fest zu­sam­men­knei­fen, um das Bild an der Wand noch er­ken­nen zu kön­nen. Ich hol­te tief Luft und zer­brach die Stil­le: „Egal, ob 10 Pro­zent Feh­ler­an­teil, Gott, re­du­zier­te For­meln oder Ho­mun­ku­lus – das al­les sind nur Hilfs­kon­struk­tio­nen der Wis­sen­schaf­ten, die über­spie­len sol­len, dass sie et­was Ent­schei­den­des nicht er­klä­ren kön­nen: Das Sein.“ Er zog eine Au­gen­braue nach oben. Am liebs­ten wäre ich auf­ge­sprun­gen und hät­te Achil­les vom Wa­gen ge­stos­sen, um sein Sie­ger­kinn in den Bo­den zu pres­sen. Statt­des­sen kratz­te ich mit dem lin­ken Fuss den Fin­ger­na­gel un­ter mei­nen Stuhl und flüs­ter­te: „Wenn man das Pro­blem nicht kennt, fin­det man auch kei­ne Lö­sung.“ Die an­de­re Au­gen­braue schob sich eben­falls nach oben, das Mäd­chen mit dem Lan­zen­hals rutsch­te ängst­lich auf ih­rem Stuhl hin und her, das Zim­mer kann­te kei­nen Licht­strahl mehr und ich stand breit­bei­nig über dem ge­fal­le­nen Achil­les, der mir mit dreck­ver­schmier­tem Ge­sicht er­staunt ent­ge­gen­blick­te. Da trat Hek­tor hin­ter mich und leg­te sei­ne Hand ru­hig auf mei­ne Schul­ter. „Wozu das al­les?“ Und weil ich ihm die Fra­ge nicht be­ant­wor­ten konn­te, mur­mel­te ich mehr zu mir selbst: „Das macht die alte Wis­sen­schaft über­flüs­sig.“, wäh­rend ich das Schwert in Achil­les Fer­se stiess. Hek­tor senk­te lang­sam den Kopf. Ent­ge­gen mei­ner Er­war­tun­gen beug­te sich der Do­zent eher ge­mäch­lich nach vorn, so­weit bis die Tisch­kan­te hart ge­gen sei­ne Ein­ge­wei­de hät­te drü­cken müs­sen, und frag­te in ei­nem Tem­po, als wür­de sei­ne Zun­ge eine Ap­fel­si­ne be­ar­bei­ten, in­dem er je­des Wort im reins­ten Hoch­deutsch noch ein­mal zer­schäl­te: „Und wel­che Lö­sung schla­gen sie vor?“ Sche­men­haft konn­te ich er­ken­nen, wie er mit sei­nem Stift ei­nen ein­fa­chen Strich quer über das Blatt Pa­pier zog, wel­ches vor ihm lag, und den Stift in ge­nüss­li­cher Ruhe wie­der auf den Tisch par­al­lel zu sei­ner Hand legte.
Ich hat­te 14 Se­mes­ter Phi­lo­so­phie stu­diert und mich dem­entspre­chend lan­ge auf die­se Fra­ge vor­be­rei­ten kön­nen. Mei­ne Er­klä­rung war ein­fach, sie muss­te es sein, da­mit sie auch von je­dem ver­stan­den wird. Ich war mir si­cher, dass selbst das Mäd­chen mit dem Lan­zen­hals mei­nen Er­klä­run­gen fol­gen könn­te. Es ist näm­lich so, dass sich das Sein im All­ge­mei­nen nur auf das Mensch­sein be­zie­hen kann. Und was ist der Mensch? Er ist ein Tier. „Um das Pro­blem des Mensch­seins zu lö­sen, muss man sein Tier­sein de­fi­nie­ren. Weil aber der Mensch im Zuge der Zi­vi­li­sie­rung, In­dus­tria­li­sie­rung und Ur­ba­ni­sie­rung sein Tier­sein ver­leug­net hat, kann er auch kein voll­kom­me­ner Mensch sein.“
Mein Do­zent sah mich für ei­nen Au­gen­blick lang ent­setzt an, kehr­te aber recht schnell wie­der zu sei­nen al­ten Ge­sichts­zü­gen zu­rück, in­dem er ei­nen Mund­win­kel nach oben und den an­de­ren nach un­ten schob und die Au­gen­brau­en ele­gant über der Na­sen­wur­zel jus­tier­te. Wäh­rend er also sei­ne Mi­mik sor­tier­te, reich­te er mir mit­tels rech­tem Arm, der durch den hoch­ge­zo­ge­nen Hemds­är­mel nackt war und sich wie ein ster­ben­der Wurm vor mir auf­bäum­te, das Blatt Pa­pier mit dem nicht ganz ak­ku­rat ge­zo­ge­nem Strich dar­auf. Das Mäd­chen zwir­bel­te un­ab­läs­sig eine Sträh­ne ih­res dün­nen und farb­lo­sen Haars und starr­te un­be­tei­ligt wie ein Pas­sant am Un­fall­ort auf die an­de­ren Fin­ger­nä­gel, die ne­ben mei­nem Stuhl ver­streut wie Blu­men­sa­men her­um­la­gen. „Und ich hat­te schon be­fürch­tet, sie sa­gen et­was zum The­ma. Sie kön­nen ge­hen. Sie ha­ben zwar kei­ne Note, aber da­für ih­ren Ab­schluss.“ Er neig­te sich zu sei­ner As­sis­ten­tin, die ih­ren Kopf kaum noch in der Senk­rech­ten hal­ten konn­te und raun­te ihr zu, als wür­de ich sei­ne lei­se Stim­me in der Stil­le nicht hö­ren kön­nen: „Hat sie was zu Auf­ga­be zwei ge­sagt?“ Die As­sis­ten­tin wis­per­te: „Nein, nichts, glau­be ich.“
Als ich die schwe­re Tür des In­sti­tuts auf­stiess, strahl­te mir eine küh­le Win­ter­son­ne un­ver­hoh­len ins Ge­sicht, und ich hielt mir die Hand vor die Au­gen. Hek­tor würg­te das Blatt Pa­pier in sei­nen Hän­den, un­schlüs­sig, ob er es auf den Bo­den oder doch lie­ber in die Müll­ton­ne schmeis­sen soll­te. Ohne sich ent­schie­den zu ha­ben, zupf­te er mir so­gleich am Är­mel und blick­te mich aus sei­nen brau­nen Au­gen zwei­felnd an, in­dem er sei­ne Stirn in Fal­ten leg­te. Ich blin­zel­te durch mei­ne ge­spreiz­ten Fin­ger hin­durch zu ihm und frag­te mich, ob er solch ein Ge­sicht auch auf dem Schlacht­feld ge­zeigt hat­te und er des­halb sei­nen Fein­den un­ter­le­gen ge­we­sen war. Er war un­ru­hig, er zog und schob mich wie­der in Rich­tung Tür, wäh­rend sei­ne Arme nun hek­tisch um sei­nen Kör­per flat­ter­ten. Ich lä­chel­te ihn nach­sich­tig an: „Nein, den Achil­les be­er­di­gen wir nicht, auch wenn es bei euch so Brauch ist. Bei uns lässt man die To­ten lie­gen. Das er­le­digt näm­lich ein Fach­mann.“ Im­mer hef­ti­ger be­dräng­te er mich und blick­te da­bei so ver­zwei­felt, wie nur Kin­der bli­cken kön­nen. Ich wand mich aus sei­nem Griff und dreh­te ihm, da ich mir nicht an­ders zu hel­fen wuss­te, den Arm auf den Rü­cken, so dass sein Kör­per ab­rupt in sich zu­sam­men sackte.
Mein Lö­sungs­vor­schlag war nicht sehr um­fang­reich, aber es war ein An­fang und nur dar­um ging es ja. Ei­ner muss­te den An­fang ma­chen, ei­ner muss­te für die, die ihm fol­gen wer­den, den Weg eb­nen, so­zu­sa­gen mit sei­ner Fan­ta­sie eine Schnei­se für die kom­men­den Ge­ne­ra­tio­nen schla­gen. Ich war be­reit. Nur muss­te ich zu­nächst ein­mal Hek­tor da­von über­zeu­gen, sich von mir nicht nur die Stras­se ent­lang zie­hen zu las­sen, son­dern auf ei­ge­nen Bei­nen zu ste­hen und mit de­nen mög­lichst schnell ne­ben mir her zu lau­fen. Von ei­nem grie­chi­schen Hel­den hat­te ich mehr Wa­ge­mut er­war­tet. Wir durf­ten kei­ne Zeit ver­lie­ren, schliess­lich lag schon der ers­te brau­ne Schnee­schlamm zwi­schen Fahr­bahn und Bür­ger­steig, der Him­mel war er­graut wie das me­lier­te Haar al­tern­der Män­ner und die Men­schen zo­gen sich die Ka­pu­zen über die frie­ren­den Köp­fe. Es wür­de nicht mehr lan­ge dau­ern und das Dröh­nen der Streu­ma­schi­nen wür­de sich über der Stadt aus­brei­ten und al­les un­ter sich be­gra­ben. Der Win­ter in gros­sen Städ­ten war die Zeit der Selbst­er­kennt­nis und An­ti­de­pres­si­va. Ich hat­te dazu eine Sta­tis­tik gelesen.
Trotz des Wi­der­stan­des von Hek­tor ge­lang­ten wir zü­gig in mei­ne von blatt­lo­sen Rot­bu­chen ge­säum­te Stras­se. Um sich dem Tier­sein zu nä­hern, müss­te man das tun, was ein Tier tut, in un­se­rem Fal­le ein Säu­ge­tier. Mit ei­ner Hand hielt ich Hek­tor fest, der sich im­mer we­ni­ger zur Wehr setz­te, mit der an­de­ren schloss ich die Tür zu mei­ner Woh­nung auf. Es war nicht nur ein­fach dun­kel im Zim­mer, son­dern na­he­zu so schwarz wie die hin­ters­te Win­dung ei­nes Fuchs­baus. Hek­tor ver­such­te ver­geb­lich, den Licht­schal­ter im Flur zu be­tä­ti­gen, ein sinn­lo­ses Un­ter­fan­gen, schliess­lich hat­te ich schon vor Wo­chen die Glüh­bir­nen raus­ge­schraubt, zu­sätz­lich di­cke Tep­pich­vor­le­ger über die Fens­ter ge­spannt und mit Gaf­fa­band ab­ge­dich­tet. Um we­nigs­tens die Sau­er­stoff­zu­fuhr in der Woh­nung zu si­chern, blieb nur das klei­ne Fens­ter im Bad ge­öff­net, was nicht wei­ter stör­te, da es so­wie­so zum Hin­ter­hof zeig­te und die­ser von den Schat­ten um­lie­gen­der Häu­ser ab­ge­dun­kelt wur­de. Kurz und gut, es herrsch­te kaum eine An­deu­tung von Licht, und so tas­te­ten wir uns blind wie Wel­pen an der Wand ent­lang zu mei­nem Schlaf­zim­mer. Hek­tor stol­per­te mir wil­len­los hin­ter­her und schien jeg­li­che Kraft ver­lo­ren zu ha­ben. Sei­ne Hand lag schlaff in mei­ner und hät­te ich ihn nicht an den Schul­tern fest­ge­hal­ten, er wäre wohl zu Bo­den ge­gan­gen. Was war von sei­ner Stär­ke noch üb­rig­ge­blie­ben? Ich lehn­te ihn be­hut­sam ge­gen den Tür­rah­men und be­tas­te­te sei­ne Stirn, die viel schma­ler wirk­te, als ich sie von heu­te Nach­mit­tag in Er­in­ne­run­gen hat­te. Sei­ne Haut war kalt und fühl­te sich fremd an. „Wenn uns der Ver­stand nicht zu bes­se­ren Men­schen macht, herrscht das Ge­setz des In­stink­tes.“ Am liebs­ten hät­te ich ihn fest in mei­ne Arme ge­schlos­sen und ihm durch sein ge­lock­tes Grie­chen­haar „Ver­trau mir“ zu­ge­flüs­tert, aber ich konn­te die­se Lee­re, die mit ei­nem Mal zwi­schen uns auf­ge­kom­men war, nicht überwinden.
So stan­den wir uns lan­ge schwei­gend ge­gen­über, fan­den in der Dun­kel­heit nicht den Blick des an­de­ren, und ich konn­te nichts wei­ter tun als sei­nem At­men zu lau­schen, wel­ches im­mer schwe­rer wur­de, als hät­te Achil­les sei­nen Fuss auf Hek­tors Brust­korb ge­setzt und wür­de nun nach und nach sein Ge­wicht nach vorn ver­la­gern. Ich war­te­te auf ein Zei­chen des Ein­ver­ständ­nis­ses von ihm, er war mein Freund, ich konn­te ihn nicht ein­fach dazu zwin­gen, mit mir den An­fang zu ma­chen, die Schnei­se zu schlagen.
Ein Ge­räusch riss mich aus den Ge­dan­ken her­aus, bes­ser ge­sagt, es war das Feh­len ei­nes Ge­räu­sches, wel­ches mich ir­ri­tier­te; ich be­griff zu­nächst nicht, was ge­nau an die­sem Mo­ment selt­sam war. Hek­tor hat­te kurz­zei­tig auf­ge­hört zu at­men, ich wuss­te, dass er dies mit Ab­sicht ge­tan hat­te, und so schlug ich ihm mit der fla­chen Hand ge­gen die Rip­pen, erst er­schro­cken und dann aus Wut. „Also los“ rief ich ihm zu und schob ihn be­stimmt in mein Zim­mer, in dem et­li­che Kis­sen und De­cken wild ver­streut her­um­la­gen und uns mit den ers­ten Schrit­ten ein­sin­ken lies­sen. Die Mö­bel hat­te ich schon im März an die Stu­den­ten, die ein Stock­werk un­ter mir ein­ge­zo­gen wa­ren, ver­schenkt. Da­nach wur­de mir ein Platz auf ih­rem ka­put­ten Sofa an­ge­bo­ten und eine Fla­sche Bier in die Hand ge­drückt. Der Abend be­gann recht an­ge­nehm und es wur­den nach und nach wei­te­re Wein­fla­schen entkorkt.
Ich war ge­ra­de da­bei, ih­nen mei­ne Theo­rie des Mensch­seins zu er­läu­tern, im­mer be­strebt dar­in, wei­te­re We­ge­ge­fähr­ten für die Sa­che zu ge­win­nen, als mir ein ziem­lich be­trun­ke­ner Lehr­amts­stu­dent ins Wort fiel, in dem er la­chend ver­kün­de­te: „Das ist doch nicht neu. Tar­zan hat es vor­ge­macht!“ Nach dem das dar­auf fol­gen­de Hand­ge­men­ge von den um­ste­hen­den Zu­hö­rern auf­ge­löst wur­de, glät­te­te ich be­däch­tig mein Shirt und über­liess die­se Mensch­heit sich selbst. Die Mö­bel soll­ten sie trotz­dem be­hal­ten. Ich hat­te schliess­lich kei­ne Ver­wen­dung mehr da­für. Zwi­schen den Kis­sen sta­pel­ten sich Thun­fisch­do­sen, dut­zen­de Pa­ckun­gen ver­schie­de­ner Tro­cken­keks­sor­ten und Wasserflaschen.
Eine funk­tio­nie­ren­de Rück­be­sin­nung auf das Tier in uns muss gut vor­be­rei­tet sein. Ich drück­te Hek­tor sanft in die Kis­sen und warf ei­ni­ge De­cken über uns. Dann hielt ich ihm mei­ne ge­öff­ne­te Hand­flä­che ent­ge­gen, in der sich zwei klei­ne, weis­se Ta­blet­ten ver­steck­ten und dar­auf war­te­ten, ver­daut zu wer­den: „Du eine, ich eine“. Hek­tor be­rühr­te vor­sich­tig mei­ne zer­furch­ten Fin­ger­kup­pen, und für ei­nen kur­zen Au­gen­blick fühl­te es sich wie ein Strei­cheln an. Ich tas­te­te wie­der nach sei­ner Stirn und stell­te trau­rig fest, dass er sei­ne Au­gen­brau­en miss­trau­isch zu­sam­men­ge­zo­gen hat­te. „Wenn du auf­wachst, nimmst du gleich zwei. Ich hab das ge­nau be­rech­net.“ Nun zwang ich ihm die ers­te Ta­blet­te in den Mund, schluck­te auch mei­ne hin­un­ter und leg­te die klei­ne Me­tall­do­se hin­ter mich. Ich woll­te, dass er mir ver­traut und sprach ihm auf­mun­ternd zu: „Du kannst auch was von dem Thun­fisch es­sen, wenn du Hun­ger hast.“ Hek­tor war ein Held, weil er nach sei­nen Prin­zi­pi­en han­del­te, und doch lag er nun teil­nahms­los ne­ben mir, als wür­de sein Kör­per wie­der der Leich­nam sein, den man bis zum Son­nen­auf­gang über das Schlacht­feld ge­zo­gen hat­te. Ich emp­fand plötz­lich ei­nen Schmerz ir­gend­wo zwi­schen Bauch und Hals, ohne mir recht er­klä­ren zu kön­nen, war­um die­ser Schmerz da, war und der Um­stand, dass ich es mir eben nicht er­klä­ren konn­te, stürz­te mich in eine selt­sa­me Ver­zweif­lung. Er hat­te da­mit be­gon­nen, sei­nen Kopf von ei­ner Sei­te auf die an­de­re zu wer­fen, gleich­zei­tig hob und senk­te er sei­ne Schul­tern, al­les ver­krampf­te sich in ihm und aus sei­nem Mund kam ein tie­fes Grol­len, was mir Angst ein­flöss­te. Es war ein Be­ben und Er­zit­tern, so stark, dass es sich auf mich über­trug, und weil ich mir nicht an­ders zu hel­fen wuss­te, drück­te ich ihm mit zwei Fin­gern die Au­gen­li­der zu, um­schlang ihn fest mit Ar­men und Bei­nen und flüs­ter­te ihm ins Ohr: „Träum`, Hek­tor, schla­fe und träu­me et­was Gu­tes. Wir se­hen uns in zwei Mo­na­ten wie­der, wenn der Win­ter­schlaf zu Ende ist.“ ♦


Angela Mund - Autorin - Glarean MagazinAn­ge­la Mund

Geb. 1986 in Illmenau/D, Stu­den­tin der Psy­cho­lo­gie, Kul­tur­wis­sen­schaf­ten und Me­di­en­päd­ago­gik, Ar­beit im Thea­ter­be­trieb als Re­gis­seu­rin und Au­torin, lebt in Leipzig

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch von An­ge­la Mund: Hun­de­ge­sprä­che (Fa­bel)

aus­ser­dem im GLAREAN zum The­ma Sa­ti­re von Ernst-Ed­mund Keil: Milch und Blut

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