Steve Reich: WTC 9/11 – Kronos Quartett (CD)

One of the towers just in flames“

von Wolfgang-Armin Rittmeier

Das At­ten­tat auf das New Yor­ker World Trade Cen­ter am 11. Sep­tem­ber 2001 war die In­iti­al­ka­ta­stro­phe des neu­en Jahr­tau­sends. Es ist kaum mög­lich, die Bil­der der bei­den bren­nen­den und zer­stör­ten Tür­me aus dem Ge­dächt­nis zu ver­ban­nen, die Bil­der der Män­ner und Frau­en, die Hand in Hand aus den bren­nen­den Ge­bäu­den spran­gen, der Feu­er­wehr­leu­te, die staub­be­deckt bis zur Er­schöp­fung nach Über­le­ben­den such­ten. Kann man dem mit ei­nem Kunst­werk, ei­nem Stück Mu­sik begegnen?

Steve Reich - WTC 9/11 - Kronos QuartettDer ame­ri­ka­ni­sche Kom­po­nist Ste­ve Reich hat es ver­sucht – und es ist ein kur­zes, aber höchst in­ten­si­ves Werk da­bei her­aus­ge­kom­men, das „WTC 9/11“ heisst und nun beim La­bel No­ne­such auf CD er­schie­nen ist. Bei dem Werk han­delt es sich um eine Auf­trags­ar­beit für das Kro­nos-Quar­tet, das auch die Ein­spie­lung über­nom­men hat. „WTC 9/11“ ist ein Opus für drei Streich­quar­tet­te, von de­nen zwei im Vor­feld auf­ge­zeich­net wur­den und ei­nes live spielt. Hin­zu tre­ten im Vor­feld auf­ge­zeich­ne­te Stim­men. Das Werk ist kurz, knapp 16 Mi­nu­ten dauernd.

Tonaufzeichnungen aus Gesprächen mit Augenzeugen

Die Sät­ze ha­ben un­ter­schied­li­che Be­zü­ge zum An­schlag. So bringt der ers­te Satz („9/11“) Ton­auf­zeich­nun­gen des NORAD (North Ame­ri­can Ae­ro­space De­fen­se Com­mand) und des FDNY (New York Fire De­part­ment), die wäh­rend des At­ten­tats mit­ge­schnit­ten wur­den. Der zwei­te Satz („2010“) bringt Ton­auf­zeich­nun­gen aus Ge­sprä­chen mit Au­gen­zeu­gen, die sich im Jah­re 2010 an die Ka­ta­stro­phe er­in­nern. Der drit­te („WTC“) kom­bi­niert Er­in­ne­run­gen von jü­di­schen Frau­en, die mo­na­te­lang im Me­di­cal Examiner’s Of­fice in New York sas­sen, um dort – der jü­di­schen Tra­di­ti­on fol­gend – wäh­rend der Sh­mi­ra Psal­men und Pas­sa­gen aus der Bi­bel zu spre­chen, mit Ge­sän­gen ei­nes Kan­tors aus ei­ner der gros­sen Syn­ago­gen New Yorks.

Komponist Steve Reich - Glarean Magazin
Kom­po­nist Ste­ve Reich

Die Mu­sik selbst nutzt durch­weg er­kenn­ba­re Stil­mit­tel. So ver­län­gert Reich die Vo­ka­le des ge­spro­che­nen Tex­tes, was ei­nen ge­wis­sen Ver­frem­dungs­ef­fekt hat, ei­nes der Quar­tet­te spielt un­un­ter­bro­chen Ton­wie­der­ho­lun­gen, die wie ein stän­di­ges Warn­si­gnal die ers­ten bei­den Sät­ze durch­zie­hen. Ei­nes der an­de­ren Quar­tet­te ori­en­tiert sich an der Sprach­me­lo­die der auf­ge­zeich­ne­ten Stim­men, stützt die­se und zieht Ma­te­ri­al dar­aus. Das ist sehr in­ten­si­ve Mu­sik, die die An­span­nung und die Angst der­je­ni­gen Men­schen, de­ren Stim­men der Hö­rer be­geg­net, ein­dring­lich transportiert.

Das Geschehen musikalisch aktualisiert

Der zwei­te Satz be­ginnt zu­nächst mit Stim­men vor ei­nem rau­schend-brum­men­den Clus­ter, be­vor die Ton­wie­der­ho­lun­gen wie­der ein­set­zen, und zwar ge­ra­de in je­nem Mo­ment, da bei den spre­chen­den Per­so­nen die über­mäch­ti­ge Er­in­ne­rung an die Er­eig­nis­se wie­der ein­setzt („the first pla­ne went straight into the buil­ding“). Das ist schon ein­druck­voll, wie Reich durch die sti­lis­ti­schen Ver­bin­dun­gen des ers­ten und zwei­ten Sat­zes zeigt, wie der Mo­ment des Er­in­nerns das Ge­sche­hen in sei­ner gänz­li­chen Ge­fühls­in­ten­si­tät au­gen­blick­lich ak­tua­li­siert. Bei Reich – das wird ganz deut­lich – ist auch im Jah­re 2010 im­mer noch 9/11.
Erst im letz­ten Satz wan­delt sich das mu­si­ka­li­sche Ge­sche­hen. Die ner­vö­sen Ton­wie­der­ho­lun­gen en­den und das Werk nimmt den Cha­rak­ter ei­nes al­ter­tüm­li­chen Kla­ge­lie­des an, in das sich die bi­bli­schen Ge­sän­ge des Kan­tors wie von selbst hin­ein­fin­den: „Der Herr be­hü­te dei­nen Aus­gang und Ein­gang von nun an bis in Ewig­keit!“, und: „Sie­he, ich sen­de ei­nen En­gel vor dir her, der dich be­hü­te auf dem Wege und brin­ge dich an den Ort, den ich be­rei­tet habe.“

WTC = World To Come

Steve Reichs kompositorische Auseinandersetzung mit den New Yorker Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist durchweg gelungen:
Ste­ve Reichs kom­po­si­to­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den New Yor­ker Ter­ror­an­schlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 ist durch­weg ge­lun­gen: „WTC 9/11“ ist ein höchst in­ten­si­ves Mu­sik­stück, das ge­dank­lich wie mu­si­ka­lisch dicht ist und die In­ten­si­tät der Er­eig­nis­se für die Au­gen­zeu­gen aus­ge­spro­chen plas­tisch prä­sen­tiert. Le­dig­lich die Kopp­lung mit den „Dance Pat­terns“ und dem „Mal­lett Quar­tet“ wirkt unangemessen.

WTC – das be­deu­tet für Reich auch „World To Come“, und so scheint der Satz und mit ihm das Werk zu­nächst noch ei­nen tröst­li­chen Aus­gang zu fin­den. Und doch: die letz­ten Mi­nu­ten ge­hö­ren ei­nem Spre­cher, der auf et­was an­ders hin­weist: „The world to come, I don’t re­al­ly know what that me­ans, and there’s the world right here.“ In die­ser Mon­ta­ge zeigt sich nicht nur die Un­be­greif­lich­keit der „world to come“, de­ren Tröst­lich­keit nicht mehr un­be­dingt für je­den va­li­de ist, son­dern auch die Tat­sa­che, dass wir täg­lich mit den Ge­scheh­nis­sen der „world right here“, mit Er­eig­nis­sen wie dem An­schlag vom 11. Sep­tem­ber kon­fron­tiert wer­den und in die­ser ge­gen­wär­ti­gen Welt mit der Ge­fahr sol­cher Ka­ta­stro­phen wei­ter­le­ben müs­sen. Kon­se­quen­ter­wei­se kehrt Reich dann auch mu­si­ka­lisch zum An­fang des Wer­kes zu­rück und lässt in den letz­ten Se­kun­den er­neut den Warn­ton er­klin­gen – lei­ser ist er wohl, aber er ist im­mer noch da.

We­nig pas­send hin­ge­gen scheint mit die Kom­bi­na­ti­on die­ses durch­weg aus­ser­ge­wöhn­li­chen Wer­kes mit dem „Mal­let Quar­tet“ (2009) für Vi­bra­pho­ne und Ma­rim­bas, glän­zend ge­spielt vom En­sem­ble Sō Per­cus­sion, und dem kur­zen Stück „Dance Pat­terns“ aus dem Jah­re 2002. Nichts ge­gen die Stü­cke an sich: das ist sehr rhyth­mus­be­ton­te, gut klin­gen­de, schnel­le, spie­le­ri­sche, nicht sel­ten jaz­zi­ge Mu­sik, die frag­los ins Ohr geht. Was sie hier aber soll, wird nicht deut­lich. Nach der In­ten­si­tät von „WTC 9/11“ ist die­se Mu­sik an die­ser Stel­le über­flüs­sig; man hat den Ein­druck, die CD sei ein­fach noch auf eine Ge­samt­spiel­zeit von oh­ne­hin schma­len 36 Mi­nu­ten ge­streckt wor­den. Da­bei hät­ten die rund 16 Mi­nu­ten Spiel­zeit des „WTC 9/11“ voll­kom­men gereicht… ♦

Ste­ve Reich, WTC 9/11 – Kro­nos Quar­tet, Au­dio CD, No­ne­such 2011

… so­wie zum The­ma Quar­tett-Mu­sik über das Co­ra­zón-Quar­tett: Was­ser, Licht & Zeit (CD)

Ein Kommentar

  1. Gute und in­for­ma­ti­ve Re­view, Herr Ritt­mei­er, über­le­ge mir ei­nen Kauf, . Na ja, die nur 36 Min. sind nicht ge­ra­de kauf­för­dernd, aber an­ge­sichts der Thematik…!?

    Vie­len Dank!

    F. Ko­wal­ski

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