Vergessene Bücher (3): So grün war mein Tal – (R. Llewellyn)

Existentielle Fragen des Menschseins

von Walter Ehrismann

So grün war mein Tal“, 1939 im eng­li­schen Ori­gi­nal er­schie­nen, war das Haupt­werk des wa­li­si­schen Au­tors Ri­chard Lle­wel­lyn (Pseud­onym von Ri­chard Daf­ydd Vi­vi­an Lle­wel­lyn Lloyd), ein Ro­man über das Le­ben in ei­ner Berg­bau­sied­lung im Sü­den von Wales, 1942 von John Ford mit Mau­re­en O’Hara und Wal­ter Pidge­on ver­filmt un­ter dem Ti­tel „How Green Was My Val­ley„. Der Strei­fen wur­de für zehn Os­cars no­mi­niert, mit fünf Os­cars prä­miert, und gilt als ei­ner der bes­ten Film­wer­ke al­ler Zei­ten – spä­ter, 1975, noch­mals ver­filmt als sechs­tei­li­ge Fern­seh­se­rie. 1990 wur­de der Film von John Ford ins Ver­zeich­nis der Na­tio­nal Film Re­gis­try auf­ge­nom­men, sei­ner kul­tu­rel­len, his­to­ri­schen und äs­the­ti­schen Be­deu­tung we­gen. Von Ri­chard Lle­wel­lyn, 1906 in Lon­don ge­bo­ren, ist die­ser Ro­man das be­kann­tes­te sei­ner Wer­ke. Der Schrift­stel­ler ver­brach­te je­doch nur ei­nen Teil sei­nes Le­bens in Wales. „Wie grün war mein Tal doch und das Tal je­ner, die nicht mehr sind“ – so en­det der Roman.

Die Geschichte der Bergbau-Familie Morgan

Richard Llewellyn: So grün war mein Tal - Roman (Vergessene Bücher)Im Mit­tel­punkt der be­ein­dru­cken­den Fa­mi­li­en­sa­ga steht die Ge­schich­te der Berg­bau-Fa­mi­lie Mor­gan, die um 1880 ein ein­fa­ches, aber zu­frie­de­nes Le­ben führt. Ge­burt, Kind­heit und Ju­gend, kirch­li­che Ein­seg­nung, die ers­ten lan­gen Ho­sen und der ers­te Kuss, Schu­le und Ar­beit, Kon­flik­te, Fuss­ball­spiel und Chor­sin­gen, Dieb­stahl und Tot­schlag, Krank­heit und Al­ter sind ein­ge­bet­tet in das Dra­ma der kom­men­den Ent­frem­dung. Die vor­der­grün­di­ge Idyl­le fin­det ein jä­hes Ende, denn man hat im Tal neue Koh­le­vor­kom­men ent­deckt, und schon bald ent­brennt zwi­schen der Dorf­ge­mein­schaft und den skru­pel­lo­sen eng­li­schen Gru­ben­be­trei­bern ein rück­sichts­lo­ser In­ter­es­sen­kampf um Ge­winn und Ar­bei­ter­eh­re, um Pri­vi­le­gi­en und alt­her­ge­brach­tes Le­ben, um Mo­der­ni­sie­rung und Zer­fall der be­stehen­den Ge­sell­schafts­struk­tu­ren. Es ist die Ge­schich­te ei­nes Ta­les und ei­nes Städt­chens, das vom Berg­bau lebt und vom Berg­bau zu­grun­de ge­rich­tet wird, ei­nes Or­tes wie vie­le auf der Welt, die am Ende des vor­letz­ten und zu Be­ginn des letz­ten Jahr­hun­derts durch die mass­lo­se In­dus­tria­li­sie­rung ver­än­dert, rui­niert wur­den und mit ih­nen die gan­ze Le­bens­art. Am Ende wirft der gros­se Krieg (1. WK) sei­nen dro­hen­den Schat­ten voraus.

Suche nach dem Platz an der Sonne

Wenn der Industrie und der Wirtschaft ganze Landstriche geopfert werden: Szene aus dem s/w-Film
Wenn der In­dus­trie und der Wirt­schaft gan­ze Land­stri­che ge­op­fert wer­den: Sze­ne aus dem s/w-Film „How green was my val­ley“ (1941)

Wenn früh am Mor­gen die Män­ner aus den Häu­sern tre­ten und zur Gru­be ge­hen, ste­hen die Frau­en un­ter der Tür und schau­en ih­nen nach, wie sie die Stras­sen hin­un­ter mar­schie­ren, ein­an­der grüs­sen, das Es­sens­pa­ket in der ei­nen Hand, die Pfei­fe in der an­dern. Links und rechts der Stras­se die ty­pi­schen Rei­hen­häu­ser, zwei­stö­ckig, weiss ge­tüncht, die schma­len Vor­gär­ten mit dem Sitz­platz und hin­ter den Häu­sern der Ge­mü­se­gar­ten, ein Bäum­chen, Bee­ren­sträu­cher, ein Ka­nin­chen­stall oder ein Ge­he­ge für ein paar Hüh­ner. Huw, der Jüngs­te der Fa­mi­lie Mor­gan, er­zählt von sei­nen El­tern, die hart am Wan­del der Zeit tra­gen, aber den­noch stets ver­su­chen, die Fa­mi­lie zu­sam­men­zu­hal­ten. Die gan­ze Fa­mi­lie Mor­gan ist mit dar­in ver­wi­ckelt – der Va­ter Gwi­lym als Stol­len­meis­ter, die fünf äl­te­ren Söh­ne als Hau­er oder Ma­schi­nis­ten. Die Brü­der, stol­ze und lei­den­schaft­li­che Män­ner, ma­chen sich für die Rech­te der Ar­bei­ter stark und grün­den neu eine Ge­werk­schaft, wäh­rend Ang­ha­rad, eine der Schwes­tern, den Sohn ei­nes Gru­ben­be­sit­zers hei­ra­tet. Eine be­gin­nen­de, zar­te Ro­man­ze zwi­schen ihr und dem viel äl­te­ren Pre­di­ger hat sich nicht er­füllt. Und die Mut­ter? Sie ver­wal­tet die Geld­büch­se, die je­der am Schluss der Wo­che mit sei­nem Lohn füllt. Zu Bron­wen, der Braut ei­nes sei­ner Brü­der, schaut Huw in ju­gend­li­cher Ver­eh­rung auf. Er him­melt sie an, denn sie ist es, die ihn in der lan­gen Zeit sei­ner Krank­heit pflegt und auf­mun­tert. Spä­ter wird sie zu sei­ner ers­ten gros­sen Lie­be, und nur das ge­gen­sei­ti­ge Wis­sen um die Zu­ge­hö­rig­keit ver­hin­dert ein Ab­glei­ten ins Unerlaubte.
In Rück­bli­cken er­zählt der Au­tor mit der Stim­me des halb er­wach­se­nen Huw die Ge­schich­te. Er spürt den Ernst des dro­hen­den Streiks, der den Streit ent­fa­chen wird zwi­schen dem Va­ter mit sei­nen alt­her­ge­brach­ten An­sich­ten und Huws Brü­dern. Huw Mor­gan, noch zu jung für den Ein­stieg in die Gru­be, ruft sich in Er­in­ne­rung, wie er als Kna­be die dra­ma­ti­schen Er­eig­nis­se er­leb­te, die nicht nur das Le­ben sei­ner El­tern und der gan­zen Fa­mi­lie, son­dern auch sein ei­ge­nes und das al­ler Be­woh­ner des Mi­nen­städt­chens ra­di­kal ver­än­der­te. Da­nach zieht er für im­mer weg von Cwn Rhond­da, weg aus dem Tal wie alle, die ver­su­chen, ei­nen Platz an der Son­ne, das heisst Ar­beit und über­haupt eine Zu­kunft zu haben.

Was ist noch gültig? Gibt es Sünde?

Fragen von existentieller Bedeutung aufgeworden: Richard Llewellyn (1906–1983) - Richard Llewellyn: So grün war mein Tal - Roman (Vergessene Bücher)
Fra­gen von exis­ten­ti­el­ler Be­deu­tung auf­ge­wor­den: Ri­chard Lle­wel­lyn (1906–1983)

Im Ver­lau­fe der Ge­schich­te wird der Le­ser, die Le­se­rin mit Fra­gen kon­fron­tiert, die un­ser al­ler Zu­sam­men­le­ben be­tref­fen: Was ist all­ge­mein gül­tig? Was ist Mo­ral, gibt es Sün­de, und wie steht es mit der Stra­fe, der Ra­che? Darf der Va­ter ei­nes ge­schän­de­ten und er­mor­de­ten Mäd­chens den über­führ­ten Tä­ter tö­ten? Lle­wel­lyn meint de­zi­diert „Ja“ – und als Leser/Leserin ist man hin- und her­ge­ris­sen, wenn das ei­ge­ne mo­ra­li­sche Denk­ge­bäu­de ins Wan­ken ge­rät, ge­ra­de wenn wir an die heu­ti­gen Fäl­le von Kin­der­schän­dung den­ken und un­ser Ra­che­ge­fühl von der Jus­tiz schlecht be­dient wird, das Ge­setz­buch Lü­cken auf­weist oder die wan­kel­haf­te Aus­le­gung durch Rich­ter, Psych­ia­ter und zeit­be­ding­te An­sich­ten uns un­se­re ei­ge­ne Ver­ant­wor­tung ab­nimmt. Die gan­ze männ­li­che Dorf­ge­mein­schaft in die­ser Tra­gö­die ei­nes „zu­rück­ge­blie­be­nen“ Berg­bau­ge­biets in Wales am Ende des vor­letz­ten Jahr­hun­derts be­tei­ligt sich an der Su­che nach dem Mör­der, über­gibt, als sie ihn fin­det, den jäm­mer­lich um sein Le­ben fle­hen­den Mann an der Stel­le, wo das acht­jäh­ri­ge Kind ge­tö­tet wur­de, dem Va­ter und über­lässt den wim­mern­den Tä­ter der Ra­che des Va­ters. Es war ein „Aus­län­der“, ein zu­ge­wan­der­ter Eng­län­der, der nicht zur Ge­mein­schaft der klei­nen Stadt ge­hör­te. Die Män­ner bil­den ei­nen Kreis um die bei­den und schau­en zu, die Frau­en und Kin­der sind im Dorf ge­blie­ben und hö­ren die Schreie. Die­se ar­chai­sche Sze­ne un­ge­fähr in der Mit­te des Bu­ches bil­det den Auf­takt zu Huws end­gül­ti­gem Er­wach­sen­wer­den. Rück­bli­ckend über­schaut der Er­zäh­ler sei­ne Kind­heit und Ju­gend in die­sem Städt­chen im Sü­den von Wales, das un­ter den täg­lich grös­ser wer­den­den Schla­cke­ber­gen der Koh­le­för­de­rung, die schlei­chend lang­sam bis zu den Hin­ter­gär­ten rei­chen, zu er­sti­cken droht. Wo frü­her Wie­sen und Wei­den für Scha­fe wa­ren, Obst­gär­ten, Tei­che, Wege und Plät­ze, über­all­hin stösst nun die Schla­cke vor, die Res­te der Koh­le, die bei der Ver­hüt­tung üb­rig­ge­blie­ben sind, oder der un­ver­wert­ba­re Teil des Aus­hubs aus den Berg­wer­ken, der nicht al­lein die Land­schaft ver­schan­delt, son­dern sich auch in den Lun­gen der Men­schen fest­setzt, sie krank macht. Die­ser Ver­falls­pro­zess des Ein­zel­nen und der Ge­mein­schaft ist der In­halt des Ro­mans, der uns in ein­drück­li­chen Bil­dern zeigt, was Gier, Ge­winn­sucht, Auf­he­bung der in­ner­lich ver­spür­ten Schran­ken in den Men­schen an­rich­tet. Die Söh­ne ent­frem­den sich dem Va­ter, die Frau­en den Män­nern, die Toch­ter ent­frem­det sich der Mut­ter, der Ein­zel­ne dem ge­mein­sa­men Wohl. Da­zwi­schen schie­ben sich Er­in­ne­rungs­stü­cke von um­wer­fen­der Ko­mik, wenn ein Fuss­ball­match zwi­schen zwei Or­ten zu den da­ma­li­gen Re­geln aus­ge­tra­gen wird, die Be­säuf­nis­se und Schlä­ge­rei­en nach dem Schluss­pfiff, wenn der orts­an­säs­si­ge Chor ein­ge­la­den wird, vor der Kö­ni­gin (Vik­to­ria) zu sin­gen, oder wenn Huw von ei­nem Bo­xer, dem Freund ei­nes sei­ner Brü­der, auf­trai­niert wird, um in der Schu­le den un­ge­rech­ten, ver­hass­ten Leh­rer ver­prü­geln zu können.

Umzingelt vom Moloch Moderne

Huw Mor­gan wird das Berg­bau-Städt­chen und die we­ni­gen Üb­rig­ge­blie­be­nen sei­ner Fa­mi­lie am Ende der Ge­schich­te ver­las­sen. Als Er­in­ne­rungs­stück nimmt er das blaue Tuch, das sei­ne Mut­ter je­weils als Schal um die Schul­tern ge­wi­ckelt hat, mit auf den lan­gen Weg. Als er geht, ist das Schick­sal der klei­nen Stadt und der Land­schaft längst be­sie­gelt: Al­les wird zer­stört wer­den wie so vie­le Städ­te und Dör­fer die­ser Ge­gend, der Koh­le­för­de­rung, den Ze­chen, den Be­gleit­erschei­nun­gen des Berg­baus und den Hüt­ten­wer­ken ge­op­fert im Ver­lau­fe der fort­schrei­ten­den In­dus­tria­li­sie­rung. Ka­putt­ge­macht auch die Sit­ten, Bräu­che und Bin­dun­gen der in Jahr­zehn­ten ge­wach­se­nen Ge­mein­schaft, hin­ge­ge­ben dem Mo­loch Moderne.

„How Green Was My Val­ley“: Idyl­li­sche Berg­welt-Kind­heit und…

Huws Er­in­ne­rungs­ar­beit be­ginnt dort, wo er und ei­ner sei­ner Brü­der heim­lich die ge­hei­men Ver­samm­lun­gen der Ar­bei­ter nachts am Berg be­lau­schen, die Rede des all­ge­mein ge­ach­te­ten Va­ters an­hö­ren, der den Leu­ten ins Ge­wis­sen re­det und sie von der Nutz­lo­sig­keit und Un­recht­mäs­sig­keit ei­nes Streiks zu über­zeu­gen ver­sucht, wie sich die Mut­ter ein­mischt in das be­gin­nen­de ge­werk­schaft­li­che Ge­ba­ren der Män­ner, wie sie auf dem Rück­weg von der Ver­samm­lung auf dem Eis des Ba­ches aus­rutscht und Huw ihr das Le­ben ret­tet, in­dem er stun­den­lang ih­ren Kör­per mit dem sei­nen stützt im Eis. Er wird krank, bett­läg­rig, ver­passt die Ein­schu­lung und wird zu­hau­se vom Pre­di­ger der Ge­mein­de in Le­sen, Schrei­ben und Rech­nen un­ter­rich­tet. Bron­wen, die jun­ge Frau sei­nes Bru­ders, päp­pelt ihn auf, ver­wöhnt ihn mit ih­rer Koch­kunst. Sie wird zum ers­ten Idol sei­ner Kna­ben­jah­re.  Und als Huw end­lich dem Un­ter­richt der Pri­mar­schul­stu­fe fol­gen kann, hat er Mühe, sich ein­zu­glie­dern. Eine ver­arm­te Frau, die ih­ren bei ei­nem Ei­sen­ab­stich ver­brüh­ten Mann pflegt, lehrt für ein paar Pen­ces in ih­rer Stu­be die Kin­der der Berg­leu­te das Ein­mal­eins und die Buch­sta­ben des Al­pha­bets. Noch schwie­ri­ger wird’s für Huw auf der Mit­tel- und Ober­stu­fe. Er muss ins be­nach­bar­te Städt­chen, ist gut eine Stun­de zu Fuss un­ter­wegs. Es ist eine Ta­ges­schu­le, je­des Kind bringt von da­heim die Mit­tags­ver­pfle­gung mit. Wa­li­sisch, ihre ur­ei­ge­ne Spra­che, ist im Un­ter­richt und auf dem Pau­sen­platz strik­te ver­bo­ten. So müs­sen sie halt Eng­lisch par­lie­ren, für die Ju­gend­li­chen eine Fremd­spra­che. Ihr Wa­li­sisch ist nahe dem Gä­li­schen und dem Bre­to­ni­schen ver­wandt und weist über­haupt kei­nen Be­zug zur eng­li­schen Spra­che auf. Wer ge­gen die­se ei­ser­ne Schul­re­gel ver­stösst, be­zieht Prü­gel­stra­fe, da­mals an der Schu­le gang und gäbe, vom Prü­gel­meis­ter mit dem Rohr­stock voll­zo­gen. Die­ser „Spra­chen­streit“ gibt ei­nen Ein­blick in die Di­stanz, die zwi­schen den ehe­ma­li­gen Er­obe­rern aus Eng­land und den wa­li­si­schen Un­ter­ta­nen herrsch­te und im­mer noch herrscht. Erst in jün­ge­rer Zeit ist an den Schu­len Wa­li­sisch als Un­ter­richts­spra­che an der Un­ter- und Mit­tel­stu­fe wie­der ein­ge­führt wor­den, zu­erst den Be­hör­den in der That­cher-Ära ab­ge­trotzt und dann recht­lich abgesichert.
Der Jun­ge ver­liebt sich. Lei­der stammt das Mäd­chen, das mit ihm die­sel­be Schul­klas­se der Ober­stu­fe be­sucht, aus dem Nach­bar­ort. Nachts auf dem Berg lässt er sei­ne An­ge­be­te­te den Klang der Nach­ti­gal hö­ren, in frei­er Na­tur un­ter dem Ster­nen­him­mel. Sie schlüp­fen, weil es ge­gen mor­gen kalt wird, un­ter die De­cke und Huw er­kun­det die Ge­heim­nis­se des weib­li­chen Kör­pers. Plötz­lich Lärm und Fa­ckeln! Die Män­ner des an­dern Städt­chens su­chen die zwei, und nur mit knap­per Not ent­kom­men sie un­er­kannt der dro­hen­den Strafe.

Rigide Gemeinschaft der Gläubigen

Im Got­tes­dienst ih­rer Kir­che muss Huw ein­mal mit­an­se­hen, wie es ei­ner jun­gen Frau er­geht, die „ge­fal­len“ ist: Vor der Ge­mein­schaft der Gläu­bi­gen beich­tet sie ih­ren Ab­fall vom rech­ten Glau­ben und von der gül­ti­gen Mo­ral, und ob­wohl Huw weiss, dass der ält­li­che Pas­tor ein Ver­hält­nis mit Huws jun­ger Schwes­ter hat, ge­lingt es ihm nicht, eine we­ni­ger ri­gi­de Denk­art im Kreis der Dis­ku­tie­ren­den ein­zu­brin­gen. Er muss in der Kir­che schwei­gen, weil er un­ter den Gläu­bi­gen noch zu jung ist. Nach­her aber, vor der Kir­che, wagt er es, für die Ge­mass­re­gel­te Par­tei zu er­grei­fen. Sein Va­ter ist er­schüt­tert über den un­bot­mäs­si­gen Jun­gen, dass er ihn ta­ge­lang mit Schwei­gen bestraft.

...drohende Zerstörung durch rauchende Fabrik-Schlote - Richard Llewellyn: So grün war mein Tal - Roman (Vergessene Bücher)
…dro­hen­de Zer­stö­rung durch rau­chen­de Fabrik-Schlote

So ist vie­les in die­sem Ro­man ge­zeich­net durch die Denk­art ei­ner längst ent­schwun­de­nen Zeit, und doch, wenn man das Lo­kal­ko­lo­rit weg­lässt, schä­len sich die exis­ten­ti­el­len Fra­gen des Mensch­seins her­aus. Wer ei­nen Ver­gleich her­bei­zie­hen möch­te, schaue sich den Film „Bil­ly El­li­ot – I will dance“ an. Auch die­se Ge­schich­te spielt im tris­ten Mi­lieu ei­ner Berg­bau-Fa­mi­lie in Wales. Ar­beit, Bier­trin­ken, Bo­xen, Streik – all das ist in die­ser Ge­schich­te eben­falls drin, vor rea­lem Hin­ter­grund der That­cher-Ära hun­dert Jah­re spä­ter als „So grün war mein Tal“ – in der Zeit der gros­sen Ar­bei­ter­auf­stän­de um 1980 we­gen der an­ge­droh­ten Schlies­sung der Gru­ben. Und auch in die­ser Ge­schich­te fällt der Jun­ge aus der Rei­he: Er will tan­zen, nicht bo­xen! Bil­ly wird in die Roy­al Dance Com­pa­ny auf­ge­nom­men, Huw Mor­gan, das al­ter ego des Schrift­stel­lers Lle­wel­lyn, stu­diert in Lon­don. Bei­de ver­las­sen ih­ren „Ur­grund“ und wer­den sich in der fer­nen Haupt­stadt be­haup­ten müs­sen. Bei bei­den stellt sich die Fa­mi­lie an­fangs quer. Bis der Va­ter stolz sein kann auf den Jun­gen, ver­geht eine Zeit der Ir­run­gen und Wir­run­gen. Huw er­fährt die Un­ter­stüt­zung durch die Fa­mi­lie frü­her, er hat ja der Mut­ter das Le­ben ge­ret­tet. Aus­ser­dem ge­winnt er den Schön­schrei­be-Wett­be­werb ei­ner Zei­tung, so­dass der Va­ter be­reits früh stolz auf ihn sein kann.
Das al­les ent­schei­den­de Er­eig­nis aber ist der Streik. Huw er­lebt die tie­fe Spal­tung zwi­schen Va­ter und Söh­nen. Die Brü­der Huws be­für­wor­ten die Ar­beits­nie­der­le­gung und ver­las­sen im Streit die Fa­mi­lie und ihr Haus. Im Ort herr­schen we­gen des Streiks Hun­ger und Not, die letz­ten Re­ser­ven, das Geld der Ge­werk­schaft und die Nah­rungs­mit­tel, sind auf­ge­braucht, die Lohn­büch­se der Mut­ter bleibt leer. Die Fa­mi­li­en hel­fen ein­an­der, so gut es geht, aber zu­letzt hat nie­mand mehr et­was. Ob­wohl Huws Va­ter lan­ge ge­gen den Streik war und gar als Streik­bre­cher auf­tritt, stellt er sich zu­letzt loy­al hin­ter die For­de­run­gen der Ar­bei­ter und muss da­für bit­ter büs­sen. Der Streik miss­lingt und die Fa­brik­be­sit­zer neh­men Ra­che. Der Gru­ben­be­sit­zer stellt ihn bei Käl­te, Re­gen und Schnee als Ein­gangs­kon­trol­leur im Frei­en auf. Dann zer­stört ein Wet­ter die Gru­be. Als Va­ter Gwi­lym auf Druck der Ar­bei­ter­kol­le­gen noch­mals als Ret­ter zu­ge­las­sen wird, ge­rät er auf der Su­che nach Ver­schüt­te­ten in ei­nen zu­sam­men­bre­chen­den Stol­len. Un­ter den To­ten ist auch er. Der Scha­den ist im­mens, die Gru­be wird de­fi­ni­tiv ge­schlos­sen. Die Ehe Ang­ha­ra­ds schei­tert, ein Bru­der stirbt an De­pres­si­on, die an­dern sind weg, Va­ter und Mut­ter ge­stor­ben. So en­det die Geschichte.

Weltaufauflage von über 2 Millionen Exemplaren

... ist eine Essay-Reihe, in der das Glarean Magazin Werke vorstellt, die vom kultur-medialen Mainstream links liegengelassen oder überhaupt von der
… ist eine Es­say-Rei­he, in der das Glarean Ma­ga­zin Wer­ke vor­stellt, die vom kul­tur-me­dia­len Main­stream links lie­gen­ge­las­sen oder über­haupt von der „of­fi­zi­el­len“ Li­te­ra­tur-Ge­schich­te igno­riert wer­den, und doch von li­te­ra­ri­scher Be­deu­tung sind über alle mo­di­sche Ak­tua­li­tät hin­aus. Die Au­toren der Rei­he pfle­gen ei­nen be­tont sub­jek­ti­ven Zu­gang zu ih­rem je­wei­li­gen Ge­gen­stand und wol­len we­ni­ger be­leh­ren als viel­mehr er­in­nern und interessieren.

An­hand der In­halts­an­ga­be ist man ge­neigt, das Buch als düs­ter und trau­rig zu be­zeich­nen. Das ist es nicht, eher bit­ter­süss, wenn es von Huws glück­li­cher Kind­heit und Ju­gend er­zählt. Die Tra­gö­di­en, die die Fa­mi­li­en und das Tal tref­fen und der schlei­chen­de Zer­fall der Ge­mein­schaft wech­seln sich ab mit fröh­li­chen Er­eig­nis­sen, al­les ge­tra­gen von ei­ner glück­li­chen, zu­sam­men­hal­ten­den und sich sehr lie­ben­den Fa­mi­lie, auch wenn die schliess­lich aus­ein­an­der ge­ris­sen wird. Bei der Spra­che ist zu be­rück­sich­ti­gen, dass der Ro­man 1939 ge­schrie­ben wur­de. Sie ist zwar „alt­mo­disch“, aber schön, das merkt man auch in der Über­set­zung. Das Buch er­reich­te eine Welt­auf­la­ge von weit mehr als zwei Mil­lio­nen Ex­em­pla­ren. An die­sen Er­folg konn­ten die spä­te­ren Wer­ke Lle­wel­lyns nicht an­knüp­fen. Die Fort­set­zung der Mor­gan-Saga, un­ter dem Ti­tel „Das neue Land der Hoff­nung“ er­schie­nen, über­zeug­te li­te­ra­risch nicht. Man­geln­de Sach­kennt­nis im Flie­ger-Ro­man „Den Ster­nen nah“ und schlicht Kitsch im Kib­buz-Buch „Und mor­gen blüht der Sand“ wur­de Lle­wel­lyn in der Kri­tik vor­ge­wor­fen. Der Au­tor ver­starb im De­zem­ber 1983 in Dublin.

Die Geschichte in den Geschichten

Ich lie­be Fa­mi­li­en­sa­gas, ihre De­tail­ver­ses­sen­heit, ihr au­to­bio­gra­phi­sches Cachet, die Ge­schich­ten ei­ner Epo­che in ih­rem his­to­ri­schen Rah­men. Oft ver­le­ge ich mei­ne Fe­ri­en in das Ge­biet ei­nes Ro­mans, den ich grad ge­le­sen habe. So habe ich mal die gan­ze süd­li­che Pro­vence durch­streift auf der Su­che nach den Or­ten aus dem Ro­man „Die Kin­der der Fins­ter­nis“. Oder ich lese Fach­bü­cher, Ge­schich­te, Rei­se­be­schrei­bun­gen, samm­le Zu­sätz­li­ches. So bin ich vor kur­zem auf ei­nen Ar­ti­kel in der Neu­en Zür­cher Zei­tung ge­stos­sen: Phö­nix aus der Koh­le – die Auf­er­ste­hung von Car­diff (NZZ vom 7. Juli 2011). Zi­tat: „Eine knap­pe hal­be Stun­de dau­ert die Fahrt von Car­diff Rich­tung Nor­den, dann ist man im Grü­nen. Das war nicht im­mer so. Erst in den ver­gan­ge­nen Jah­ren wur­den hier die Lö­cher auf­ge­füllt, wel­che durch den Koh­le­ab­bau in der Re­gi­on seit 1880 ent­stan­den wa­ren. Aber die Zeit hei­le alle Wun­den, heisst es, und so ent­stan­den auf den ehe­ma­li­gen Koh­le­mi­nen schritt­wei­se Land­schafts­parks, die den Tou­ris­ten zum Wan­dern, Bi­ken oder auch ein­fach nur zum Ver­wei­len ein­la­den. Wer die Spu­ren der Koh­le­indus­trie von na­hem be­sich­ti­gen möch­te, ist in Blae­na­von gut auf­ge­ho­ben. Die eins­ti­ge Boom­town der in­dus­tri­el­len Re­vo­lu­ti­on ist heu­te Unesco-Welt­kul­tur­er­be. Hier kann man sich von ei­nem Gui­de 90 Me­ter un­ter der Erde durch die eins­ti­ge Mine, den ‚Big Pit‘, füh­ren las­sen. Auf der Rück­fahrt prä­sen­tiert sich dann die Land­schaft wie­der so, wie man sie sich vor­ge­stellt hat – Ort­schaf­ten, de­ren Na­men ge­schrie­ben wer­den, als wäre eine Kat­ze ein­mal quer über die Tas­ta­tur spa­ziert, wech­seln sich ab mit saf­ti­gen Mat­ten, auf de­nen Scha­fe wei­den. Zwei bis vier Scha­fe pro Ein­woh­ner soll es in der Hei­mat von Dy­lan Tho­mas, Ri­chard Lle­wel­lyn, Tom Jo­nes und Ryan Giggs ge­ben, je nach­dem, wen man fragt“. ♦


Walter Ehrismann Wal­ter Ehrismann

Geb. 1943 in Chur/CH – gest. 2013 in Ur­dorf; Aus­bil­dung zum Leh­rer, Stu­di­um an der Zür­cher Fach­hoch­schu­le für Ge­stal­tung, 1966 Un­fall im süd­fran­zö­si­schen Meer, seit­her im Roll­stuhl, zahl­rei­che ma­le­ri­sche, bild­haue­ri­sche und li­te­ra­ri­sche Publikationen

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin aus der Rei­he „Ver­ges­se­ne Bü­cher“ auch von Bernd Giehl: „Lie­be Mut­ter…“ (Mar­ga­ret Millar)

2 Kommentare

  1. Sehr schö­ner Bei­trag zum „ver­ges­se­nen“ (nicht von mir) Buch Ri­chard Lle­wel­lyns! G.A. Lang (81)

  2. Gra­tu­lie­re zu die­sem Bei­trag, Herr Ehris­mann! Sehr schön for­mu­liert. Auch sehr ein­fühl­sam, da­bei in ho­hem Mas­se informativ.
    In der Tat ein wür­di­ges Buch, der ver­gess­li­chen Li­te­ra­tur-Mode un­be­dingt zu ent­reis­sen. Fai­rer­wei­se muss man an­fü­gen, dass der Schrift­stel­ler Lle­wel­lyn nicht NUR für die Ewig­keit ge­schrie­ben hat… (Hier ein paar Ti­tel: https://www.amazon.com/Richard-Llewellyn/e/B000AP81HE?tag=duckduckgo-d-20 ) Man­ches Spä­te­re aus sei­ner Fe­der streift schon haar­scharf das Kitschige.
    Aber „How Green…“ ragt wirk­lich her­aus. Ich habe es in jün­ge­ren Jah­ren im eng­li­schen Ori­gi­nal ge­le­sen, eine pa­cken­de, auch so­zi­al­his­to­risch sehr in­ter­es­san­te Sache.

    Noch­mals Dank für die­sen schö­nen Artikel !

    T. Schnei­der

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