Joanna Lisiak: Reife Männerstimmen (Essay)

Reife Männerstimmen

Die durchdringende Aura einer Stimmfarbe

von Jo­an­na Lisiak

Man kann sich ih­rer Fas­zi­na­ti­on nicht ent­zie­hen, auch wenn man sie zu­nächst wahr­neh­men, ja erst ge­wah­ren muss als ein iso­lier­tes Er­eig­nis. Denn tau­chen sie auf, um­gibt sie so­gleich die Hül­le ei­nes gan­zen Kos­mos’, der reich an un­ter­schied­li­chen As­so­zia­tio­nen ist. Man muss nicht erst künst­lich ver­ses­sen sein auf die mensch­li­che Stim­me, de­ren Klang und Wir­kung, um die durch­drin­gen­de Aura die­ser ganz be­son­de­ren Stim­men zu er­ken­nen. Mög­lich, dass eine ana­chro­nis­ti­sche Ver­an­la­gung oder die Er­war­tung, in ei­ner Stimm­far­be zu­gleich auch auf ei­nen vol­len Kör­per zu tref­fen, dazu ver­lei­ten, rei­fe Män­ner­stim­men, von de­nen hier die Rede ist, als mehr als ei­nen zu­frie­den­stel­len­den Hör­ge­nuss zu deklarieren.

Was ist der Körper schöner Stimmen?

Was aber ist der Kör­per die­ser Stim­men, aus was setzt er sich zu­sam­men, so dass die Sym­pa­thie beim Hö­rer als­bald her­ge­stellt ist und die An­zie­hungs­kraft ihre Wir­kung nicht ver­fehlt? Die Aus­le­gung der Fra­gen in psy­cho­ana­ly­ti­sche Ein­zel­tei­le oder gar die An­nä­he­rung an ödi­pa­le Kon­flik­te wür­de die Be­trach­tungs­wei­se ver­feh­len, weil sie all­zu sehr auf die ein­zel­nen Sub­jek­te ein­ge­hen wür­de und die Stim­me nichts wei­ter als ein Schlüs­sel dien­te, um die Cha­rak­te­re be­zie­hungs­wei­se Be­zie­hun­gen der Prot­ago­nis­ten of­fen­zu­le­gen. Von ei­ner sol­chen Ana­ly­se ist man je­doch weit ent­fernt, wenn man vor al­lem un­ter­su­chen möch­te, aus was sich die er­qui­cken­de Wir­kung speist, die eine sol­che Stim­me auf den Hö­rer hat. 1)

Stimmritze und Stimmbänder des Menschen
Stimm­rit­ze und Stimm­bän­der des Menschen

Zu­nächst ist da der rei­ne Klang. Ein Klang, der min­des­tens ei­nem har­mo­ni­schen Drei­klang gleich­kommt, oder der ist wie ein gu­ter Duft, wel­cher eine Ba­sis-, eine Herz- und eine Kopf­no­te ein­schliesst. Die mensch­li­che Män­ner­stim­me ist mit ei­ner Rei­fe be­legt, die das hö­ren­de Ge­müt im Nu be­sänf­tigt. Die Stim­me wirkt er­fah­ren, doch ist dies kaum der Haupt­grund, wes­halb sie ver­trau­en­er­we­ckend scheint. Ohne ge­nau lo­ka­li­sie­ren zu kön­nen, wo­her die Über­zeu­gung her­rührt, schrei­ben wir die­ser stimm­li­chen Rei­fe eine in­ne­re Rei­fe zu, die uns er­mög­licht, uns hin­ein­zu­be­ge­ben ins rich­ti­ge Hö­ren, sprich, ins Zu­hö­ren hin­ein. Die­ses Zu­hö­ren fin­det auf ei­ner tie­fe­ren Ebe­ne statt als das rein akus­ti­sche Wahr­neh­men, das an das the­ma­ti­sche In­ter­es­se ge­kop­pelt ist. Zu­hö­ren aus ei­nem ver­trau­ten Punkt her­aus be­deu­tet in ers­ter Li­nie zu glau­ben, was der an­de­re sagt, und es meint zu­dem, Vor­be­hal­te ab­zu­bau­en, sich nicht da­ge­gen an­zu­leh­nen, was ge­sagt wird/werden könn­te, dem wir uns mit un­se­rer Mei­nung ent­ge­gen­set­zen könn­ten oder möchten.

Umgeben mit einer Aura der Sympathie

Dies soll nicht be­deu­ten, dass wir durch die­se rei­fen Män­ner­stim­men sang- und klang­los ma­ni­pu­liert wer­den wol­len, oder dass wir etwa un­be­wusst ei­nem Me­cha­nis­mus zum Op­fer fal­len, der un­ser ei­ge­nes Den­ken lähmt. Der kri­ti­sche Punkt wird in der Kon­stel­la­ti­on des Zu­hö­rens ei­ner rei­fen Stim­me al­le­mal – und ist zu­nächst ab­hän­gig von ei­nem selbst und nicht von der Per­son aus­ser­halb –, wohl aber et­was ver­zö­gert er­reicht. Durch die ge­ge­be­ne Chro­no­lo­gie: 1. Ver­trau­en, 2. (mög­li­che) Kri­tik ent­steht je­doch ein Den­ken, das von ei­nem kon­zen­trier­ten Punkt her statt­fin­det und erst noch aus ei­ner ent­spann­ten, wo­mög­lich eher aus ei­ner emo­tio­na­len denn ei­ner ko­gni­ti­ven Hal­tung her­aus. Eine von An­fang an miss­traui­sche, kri­ti­sche Hal­tung, zum Bei­spiel ge­gen­über ei­ner we­ni­ger über­zeu­gen­den Stim­me, be­schäf­tigt das Ge­hirn von vorn­her­ein, was ei­ner­seits zu ei­ner zu­sätz­li­chen Ak­ti­vi­tät und so­mit Be­las­tung, also auf Kos­ten der Kon­zen­tra­ti­on geht, an­de­rer­seits das Den­ken un­nö­tig in eine vom Miss­trau­en, nicht aber vom The­ma be­stimm­te Rich­tung lenkt. Das Na­tu­rell des Spie­le­ri­schen und Krea­ti­ven ist je­doch in ein ent­krampf­tes Um­feld zu bet­ten. Nur so ist ein sol­ches Den­ken fle­xi­bel und of­fen für jene an­de­ren Ein­flüs­se aus­ser­halb, die sich aus die­sem Pro­zess erst ergeben.

Menschliches Ohr - Glarean Magazin
Sym­pa­thie- oder Em­pa­thie-Or­gan: Das mensch­li­che Ohr (Pixabay/Th.Wolter)

Die stimm­li­che Rei­fe über­dies er­weckt das Ver­trau­en des Zu­hö­rers auch des­halb, weil sie zwei­fel­los eine Aura von Sym­pa­thie um­gibt, die wie­der­um nicht auf ei­ner sym­pa­thisch klin­gen­den Stimm­far­be, son­dern in al­ler­ers­ter Li­nie auf Em­pa­thie auf­baut. Je­ner Em­pa­thie näm­lich, so­zu­sa­gen als “Vor­aus-Bo­nus” ge­gen­über dem Zu­hö­rer, die der noch zu ent­ste­hen­den Sym­pa­thie zu­grun­de liegt. Der ver­mit­tel­te In­halt geht mit dem Spre­chen­den auf die­ser zeit­lich nur ge­ring und nur un­be­wusst ver­scho­be­nen Grund­la­ge ent­spannt und har­mo­nisch ein­her und be­wirkt, dass das Ge­sag­te glaub­wür­dig da­her­kommt. Zwei­fels­oh­ne gibt es auch an­de­re, un­rei­fe­re Stim­men, die über­zeu­gend wir­ken kön­nen, uns zum Kern des The­mas trans­por­tie­ren und un­se­re Re­fle­xi­on vor­be­halt­los an­kur­beln. Der Un­ter­schied liegt ver­mut­lich dar­in, dass die rei­fen Män­ner­stim­men auch dank dem Vor­teil der Em­pa­thie im­mer ein Stück weit au­then­ti­scher wir­ken und uns da­her das Ge­fühl ver­mit­teln, das Ge­sag­te und Er­zähl­te wirk­lich selbst er­lebt zu haben.

Zwischen Empathie und Authenzizität

Un­se­re Ge­sell­schaft ist nicht dar­auf aus­ge­rich­tet, sich in ers­ter Li­nie mit äl­te­ren Men­schen zu iden­ti­fi­zie­ren, noch we­ni­ger dar­auf, sie sich zum Vor­bild zu ma­chen. Ob jun­ge Män­ner – ins­be­son­de­re sol­che, die Be­ru­fe aus­üben, in de­nen die Stim­me ein wich­ti­ges Ele­ment, ja auch Teil ei­nes Er­fol­ges ist – sol­chen rei­fen Stim­men (und nicht nur klang­schö­nen, stimm­ge­wal­ti­gen) nach­ei­fern, ist schwer zu be­ur­tei­len. Kann, wenn er es möch­te, ein gu­ter Schau­spie­ler nicht auch eine Au­then­ti­zi­tät durch rei­ne Ar­beit er­rei­chen? Er kann es be­dingt. Em­pa­thie ist ge­wis­ser­mas­sen auch tech­nisch her­zu­stel­len, in­dem man sich das Ge­gen­über vor­stellt auf der ei­nen Sei­te, und an­de­rer­seits, in­dem man sich als Vor­tra­gen­der in den Text mit Fri­sche, Be­geis­te­rung und ei­nem Stück Re­fle­xi­on auf das ei­ge­ne Sub­jekt hin be­zo­gen, das eben spricht, hin­ein­be­gibt. Ein or­dent­lich gu­ter Schau­spie­ler, der nicht mit der be­sag­ten rei­fen Män­ner­stim­me aus­ge­stat­tet ist, hat durch­aus die Aus­sicht, uns durch sei­ne Kunst zu ver­füh­ren, uns mit ihm füh­len zu las­sen, ihn als Schauspie­ler ver­ges­sen zu ma­chen, und er kann uns für sich ge­win­nen, in­dem wir ihm Glau­ben schen­ken, mit ihm sym­pa­thi­sie­ren usw. Doch wird er es sehr schwer ha­ben, die Em­pa­thie, die er uns ge­gen­über hat, durch Be­wusst­sein, Ab­sicht, Wil­len und Hand­werk grund­le­gend und vom ers­ten Ton an her­zu­stel­len. Denn die Em­pa­thie der rei­fen Män­ner­stim­me dem Zu­hö­rer ge­gen­über baut nicht nur zeit­lich ra­scher, son­dern auf ei­ner uni­ver­sel­len Spra­che auf und meint nicht zwei ein­zel­ne Men­schen – den Spre­chen­den und Zu­hö­ren­den plus den In­halt -, son­dern zwei Men­schen, die sich erst durch die Mensch­heit, ja Mensch­lich­keit grund­le­gend de­fi­nie­ren und auf die­se Wei­se ganz aus­ser­halb des ver­mit­tel­ten In­hal­tes zu­ein­an­der finden.

Reife Stimmen – z.B. Domingo, Reincke, Kohlund

Unverwechselbare "reife Männerstimmen": Domingo, Reincke, Kohlund
Un­ver­wech­sel­ba­re “rei­fe Män­ner­stim­men”: Dom­in­go, Rein­cke, Kohlund

Die­se vol­ler Wohl­wol­len emp­fun­de­ne Em­pa­thie ört­lich auf­zu­spü­ren ist eben­so sinn­los, wie es un­mög­lich ist, die Wor­te zwi­schen den Zei­len aus­fin­dig zu ma­chen. Wie auch im­mer die­se Stim­men ent­ste­hen und rei­fen: mit be­wusst er­leb­tem, reich ge­leb­tem Le­ben ge­füllt schei­nen sie al­le­mal. Die pure Freu­de der zu­wei­len zar­ten, mär­chen­haft an­mu­ten­den Er­zähl­wei­se des mit die­ser Stim­me Spre­chen­den schwingt im­mer über die Ver­mitt­lung des Tex­tes, über den Spre­chen­den und über den Hö­ren­den hin­aus. Sie schwingt, glüht, steckt an. Sie ist ge­bend, auch wenn wir nicht er­fas­sen kön­nen, was ge­nau wir be­kom­men. Sie lässt ei­nem ge­wiss die Frei­heit und doch kaum die Wahl, sich ir­gend­wie le­ben­dig, sub­stan­zi­ell zu füh­len, in dem Mo­ment, wo sie zu uns spricht und et­was bei uns er­reicht oder in uns bewirkt.
Die Emp­fäng­lich­keit für die­sen Schwung und die Be­geis­te­rung für die­se rei­fen Män­ner­stim­men hat wohl kaum ih­ren Ur­sprung dar­in, dass wir in die­se Stim­men das Or­gan des Wunsch­gross­va­ters oder Va­ters pro­ji­zie­ren. Die An­zie­hungs­kraft des Frem­den und doch stets so Ver­trau­ten kann bis­wei­len bis zu den ero­ti­schen Ge­fil­den füh­ren, auch wenn die­se Form von Ero­tik wohl we­ni­ger die Lei­den­schaft weckt, als dass sie ihr (künf­ti­ges, ver­gan­ge­nes, hier wie dort oder in der Mensch­heit sel­ber ver­an­ker­tes) Vor­han­den­sein un­prä­ten­ti­ös und ver­ständ­nis­voll offenbart.

Charakteristische Stimmen vom Aussterben bedroht?

Am Ende bleibt die fah­le Be­fan­gen­heit, dass die­se Art von rei­fen Män­ner­stim­men aus­stirbt, da sie ei­ner Män­ner­art an­ge­hört, die es so bald nicht mehr gibt. Mög­li­cher­wei­se wa­ren, sa­lopp aus­ge­drückt, Men­schen die­sen Schlags schon im­mer rar, aber im­mer­hin gab es ge­nug de­rer, die die­sen Stim­men ei­nen fes­ten Platz in der Ge­sell­schaft ein­räum­ten, sie wert­schätz­ten und sie für Ton­auf­nah­men, sei es in Hör­spie­len, Hör­bü­chern, Ra­dio­sen­dun­gen oder für Ver­to­nun­gen von Do­ku­men­tar- oder an­de­ren Film­pro­duk­tio­nen en­ga­gier­ten. Die Ton­trä­ger und ein paar nost­al­gi­sche Zeu­gen wer­den blei­ben, hof­fent­lich aber jene, die so zu le­ben ver­ste­hen, dass sol­che Stim­men über­haupt erst er­zeugt und her­vor­ge­bracht wer­den kön­nen, so­wie an­de­re, die es ver­ste­hen die­se zu för­dern, um sie der Ge­sell­schaft zu­gäng­lich zu ma­chen. Man­gels ge­nü­gen­der Vor­stel­lungs­ga­be ist es un­mög­lich, sich der in den Me­di­en heu­te ver­tre­te­nen Män­ner­stim­men jene her­aus­zu­pi­cken, die die Ei­gen­schaf­ten von die­ser Art rei­fen Män­ner­stim­men in ge­setz­tem Al­ter er­rei­chen könnten. ♦

1) Der Text ist im wei­tes­ten Sin­ne viel­leicht eine per­sön­li­che Lo­bes­hym­ne an die rei­fen Män­ner­stim­men, kann je­doch durch­aus auch als Bei­spiel für die rei­fe mensch­li­che Stim­me und so­mit auch als Pen­dant mit dem Bei­spiel der weib­li­chen rei­fen Stim­me ge­le­sen wer­den. Um den Text­fluss nicht un­nö­tig mit Par­al­lel-Bei­spie­len aus der weib­li­chen Stimm­welt zu stö­ren, wur­de der Fo­kus ein­zig auf die mas­ku­li­ne Sei­te ge­legt. Mög­li­cher­wei­se auch des­we­gen, weil mehr Bei­spie­le un­ter Män­nern ge­fun­den wurden.


Joanna Lisiak - Lyrik und Prosa - Glarean Magazin

Jo­an­na Lisiak

Geb. 1971 in Poznan/Polen, Ly­rik- und Pro­sa-Ver­öf­fent­li­chun­gen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, schreibt auch Thea­ter­stü­cke & Hör­spie­le, Mit­glied u.a. des PEN, Jazz-Sän­ge­rin, lebt in Nürensdorf/Schweiz

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch die Ly­rik von Jo­an­na Li­si­ak: Spur­los be­rührt – Gedichte

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