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15 Jahre Selbstzerstörung im Dienste des Wienerliedes
von Stephan Urban
Es gibt ja verschiedenartige Theorien, warum Wien eine derartig lebendige Independent-Musikszene hat – die wahrscheinlichste ist wohl, dass diese Stadt im Herzen Europas liegt und sich die hier beheimateten Musiker in alle Richtungen frei orientieren können. In diesem Sinne heisst es auch wohl teilweise zu Recht, dass östlich von Wien der Balkan beginnt.
Das sogenannte Wienerlied – das sich bei genauerer Betrachtung einer präzisen Definition ebenso erfolgreich entziehen kann wie die Enden des Regenbogens einer Erreichbarkeit – passt wohl auch nur in diese Stadt. Sein Spektrum reicht vom Strassenlied über Couplets und Spottlieder bis hin zum Kunstlied, primär geht es inhaltlich um ein Besingen der (zum Teil vermeintlichen) Vorteile Wiens, um Weinseligkeit, alkoholisch begründete Aggressionen und natürlich um die Darstellung des Wieners als Raunzer, als schwermütigen Melancholiker und prophylaktischen Pessimisten.
Gemeinhin gilt das typische Wienerlied spätestens seit dem legendären Schrammelquartett als dahingestorben, und alle selbst- oder fremdernannten Erneuerer haben mittlerweile eine grosse Zukunft hinter oder eine grosse Vergangenheit vor sich.
Unbeugsame Gestalten aus dem Wiener Untergrund

Wir schreiben das Jahr 1996. Alle? Nein! Drei unbeugsame Gestalten aus dem Wiener Untergrund leisten erbitterten Widerstand und haben damit das Genre des Wienerliedes nicht nur wiederbelebt, sondern auch weiterentwickelt und ausserdem völlig andere Musikrichtungen beinahe zappaesk und wie selbstverständlich integriert. Die Rede ist von Heinz Ditsch (Akkordeon, Singende Säge, Fagott, Gesang), Paul Skrepek (Kontragitarre, Schlagzeug, Gesang) und Wolfgang Vinzenz Wizlsperger (Gesang, Euphonium, Kammblasen und Moderation) – das Wiener Musik-Kollegium Kalksburg.
Gemeinsam mit dem umtriebigen Stefan Sterzinger bildeten Heinz Ditsch und Wolfgang Vinzenz Wizlsperger seit 1986 das nicht gerade erfolgsverwöhnte Blues-Trio “Franz Franz & the Melody Boys”, welches 1992 durch Paul Skrepek am Schlagzeug verstärkt wurde. Aber zwei Jahre später war der Ofen aus, die Combo wurde einvernehmlich aufgelöst.

In diese trostlose Situation hinein platzte nun 1996 bei Paul Skrepek ein Anruf der Veranstalter des “Herz-Ton-Festivals”, die jenen wohl mit dessen Cousin Peter Paul Skrepek, Gitarrist der legendären Band von Hans Hölzel, weltweit besser bekannt als Falco, verwechselt hatten. Angefragt wurde, ob Herr Skrepek nicht so etwas wie moderne Wienerlieder für dieses Festival kreieren und diese auch zur Aufführung bringen könnte. Paul Skrepek schaltete schnell, sagte zu und aktivierte seine alten Mitstreiter.
Der Gruppenname war schnell gefunden; Von Paul Skrepeks Wohnzimmerfenster fällt der Blick direkt auf das Gymnasium Kollegium Kalksburg, eine Eliteschule, welche in unmittelbarer Nähe einer Trinkerheilanstalt liegt. W. V. Wizlsperger schrieb dann sogleich sein erstes grosses Lied “Ois junga Mensch” und einen eher unanständigen Text zu einem angedeuteten Beatles-Thema namens “Vier Jahreszeiten”. Zusätzlich studierte man noch “A oides Wossabangl” von Karl Savara & Rudi Schipper sowie “A scheene Leich” von Leibinger und Frankowski ein.
Das war natürlich zu wenig, um ein einstündiges Programm zu gestalten, aber die Zeit war knapp. So wurden die Lieder humorig in die Länge gezogen, und der stegreifstarke Herr Wizlsperger unterhielt das Publikum zwischen den Liedern mit überaus heiteren Moderationen. Das Konzert war der Geburtsschrei einer grossartigen Formation, ein voller Erfolg – und gilt heute noch bei allen, die dabei gewesen sind, als legendär. Leider gibt es bis dato keine Aufzeichnung davon, ein Umstand, der sich dem Vernehmen nach aber bald ändern wird. Doch dazu später. Jedenfalls wurde das Erfolgsrezept weiterentwickelt und verfeinert – der Rest ist Geschichte…
Atmosphäre, Humor, Anmut

Nach weiteren erfolgreichen Auftritten erschien 1997 das erste Album “Bessa wiads nimma” (Besser wird es nicht mehr). Es wurde ein regionaler Erfolg und erntete hervorragende Kritiken. In der ursprünglichen Form ist es schon lange nicht mehr erhältlich, wurde aber kürzlich – aufgemascherlt durch viele, aber unverzichtbare Bonustracks – neu aufgelegt.
Auf diesen Lorbeeren ruhte man sich keineswegs aus, eine Zusammenarbeit mit dem Koehne String Quartet führte 1998 zu dem ebenfalls längst vergriffenen Album “Oid und blad” (Alt und dick), das nur 22 pralle Minuten lang war und 2005 neu aufgelegt wurde. Durch wertvolles Zusatzmaterial erreicht die CD nun eine Spielzeit von 48 Minuten.
1999 wurde das Album “Sis Wos Se Bittls” produziert, das unter anderem einige in Mundart übertragene Beatles-Covers enthielt (aber auch z.B. eine Live-Version des Gassenhauers “Hinz und Kunz”). Die Rechte-Inhaber einiger der darauf vertretenen Songs verweigerten allerdings die Freigabe, und so war dieses Album nie offiziell erhältlich, steht aber auf der Website der Künstler als Gratisdownload zur Verfügung. Wer einmal z.B. “Yesterday” als “Blosndee” (Blasentee) gehört hat, wird das Original nie mehr ohne Erheiterung hören können. 2000 erschien schliesslich, ebenfalls sehr ambitioniert, “S spüt si o” (Es spielt sich ab), bei dem erstmals der grossartige Klarinettist Martin Zrost mitwirkte.
Homers Odyssee in die Wirtshäuser verlegt

Mit dem 2003 aufgelegten Konzeptalbum “A Höd is a Schiggsoi” (Ein Held zu sein ist ein Schicksal) legten die drei Musikanarchisten ihr wohl ambitioniertestes Werk vor – ein Album, das offenbar geboren werden wollte, das Homers Odyssee in die Wirtshäuser verlegte, ein dringliches Werk, das wie kein anderes zeigt, dass bei dieser Formation immer grosse Kunst entsteht, egal, was da herausgelassen wird. Martin Zrost steuerte ein entfesseltes Klarinettenspiel bei, und die japanische Performance-Künstlerin Yoshie Maruoka verzauberte mit verbindenden Texten die eigenartigen Gesamtstimmung des Albums.
2005 erschien “Imma des Söwe” (immer das Selbe), eine Platte, auf dem die drei Herren wieder mehr zu den wienerischen Wurzeln zurückkehren, das aber trotzdem mehr als nur einen Hauch von globalen Weltmusikeinflüssen beinhaltet.
2008 wurde das meiner Meinung nach zugänglichste Album “Wiad scho wean” (wird schon werden) veröffentlicht, das erstmals eine Georg-Danzer-Cover-Version (Ruaf mi net au) enthielt und in weitere – bisher leider nur live zu hörende – grossartige Interpretationen von Liedern dieses zumeist völlig unterschätzten österreichischen Musikers ausarten sollte.
Musikalisch schwierige Aufgaben spielerisch gelöst

Im Herbst 2010 führte dann die Zusammenarbeit mit Martin Zrost und Oskar Aichinger (Piano) zu dem wohl bisher ehrgeizigsten Projekt des Klangkombinats Kalksburg, dessen musikalischer Output sich nunmehr weit vom Wienerlied entfernt. Verstärkt mit Thomas Berghammer (Trompete), Hannes Enzlberger (Bass), Christian Gonsior (Saxofon) und Clemens Hofer (Posaune) trat man z.B. mehrmals im Wiener Jazz-Club Porgy & Bess auf. Paul Skrepek bedient statt der Kontragitarre in dieser Formation das Schlagzeug und zeigt dabei, dass er ein absoluter Weltklasse-Drummer ist, der selbst in dieser “Big-Band” Akzente setzen kann.
Eigene Lieder aus der bisherigen glorreichen Vergangenheit werden ebenso verabreicht wie neues Material, völlig respektlos zeigt man dem “Buena Vista Social Club” vor, wie man sowas in Wahrheit herbläst und welche Texte da wirklich dazu gesungen werden müssen; “Arrivederci Roma” wird gespielt wie eine Schallplatte, die dauernd hängen bleibt und dann weiterspringt, das Original wird dadurch für alle Zeiten unanhörbar, und man kann nur staunen, wie spielerisch derart schwierige Aufgaben gelöst werden.
Zudem gibt’s Brachiales in jeder Form, dass es nur so kracht, und nicht mal vor Robert Stolz, Udo Jürgens oder Adamo wird halt gemacht. Eine Band also, die eine Fülle an Atmosphäre, Humor, Betroffenheit und musikalischer Anmut bereitstellt.
.Band-Jubiläumsfeier im Spittelberg-Theater
Mitte September wird im Wiener “Theater am Spittelberg” drei Tage lang das Bandjubiläum gefeiert werden. Am ersten Tag wird in der Urformation gegeigt, am zweiten Tag wird “A Höd is a Schiggsoi” aufgeführt, am dritten Tag soll – chronologisch korrekt – das Klangkombinat aufspielen. Dem Hörensagen nach wird bei dieser Gelegenheit ein neues Album präsentiert, dem als Bonus-CD das legendäre erste Konzert beiliegen soll.
Wenn nun ein wenig der Eindruck entstanden ist, dass das Kollegium Kalksburg in erster Linie eine Cover-Band sei, so möchte ich diesen in aller Deutlichkeit zurechtrücken. Alle drei Musiker schreiben eigenständige Lieder, die einerseits der Wiener Tradition verpflichtet sind, andererseits einen unverkennbaren Stil aufweisen und durch den ganz eigenen Sound dieser Formation ein Eigenleben entwickeln, wie man das sonst nur bei den ganz Grossen findet. Auch die Texte des Kollegiums, für die primär W. V. Wizlsperger verantwortlich zeichnet, führen dort weiter, wo z.B. ein Helmut Qualtinger aufhören musste – und das auch noch mit Riesenschritten: Sie sind Paradebeispiele dafür, wie sich hundsordinäre Ausdrücke, Weinerlichkeit und Weinseeligkeit, verkaterte Aggression, banale Einsichten, grosse Weisheiten und aussichtslose Tragödien zu grosser Kunst ausformen können.
Nicht zuletzt durch die Tätigkeit dieser drei Gestalten hat das Wienerlied wieder in der österreichischen Musikkultur Fuss gefasst, und Formationen wie “Die Strottern” oder auch die “Mondscheinbrüder” zeigen mittlerweile auf, dass neues Publikum für diese Musikform interessiert werden kann. Auf die Entwicklungen der nächsten 15 Jahre darf man also gespannt sein. ♦
Wiener Sängerin Harriet Müller-Tyl: Insomnia
Eine gelungene Kapellenbiographie und ein gelungener Artikel freilich nicht weniger.
Interessant ist, dass der Tenor des Artikels, der so andeutungsvoll wie unverblümte Aussagegehalt der Überschrift, sich im Inhalt des übrigen Textes kaum auch nur zwischen den Zeilen niederschlägt. Der Ehrenmann und Berichterstatter bleibt in seiner Haltung vornehm beobachtend und kleine Extravaganzen erlaubt er sich nur sprachlich, spielerisch, aber keineswegs darin, sich am beschriebenen Objekt zu messen. Eine erfreuliche Tugend, die den Berichterstattern in vielen Medien heutzutage, jedenfalls nicht mehr die allerliebste zu sein scheint.
Und eben dieses leichtfüßige Spiel mit dem Ausdruck ist so erfreulich an diesem Artikel, der vom Autoren dieser Zeilen doch eher zufällig durch einen Hinweis auf der Internetseite der Künstler ins Auge fiel. Bei der doch geraumen Länge des Artikel und der allbekannten Kürze der üblichen Verweildauer von Lesern auf Seiten dieses Internets, kann es dem Autoren gar nicht hoch genug angerechnet werden, bei allem Informationsgehalt auch noch Muße für anregend spielerischen Ausdruck gefunden zu haben.
In Hoffnung auf baldig mehr sende ich Grüße aus München
Andreas
Lieber Stephan!
Das “Kollegium Kalksburg” kenne ich schon seit ihren Anfängen, als sie noch im Buschenschank-Lokal Mohrenberger in Perchtoldsdorf bei Wien aufspielten. Ich war auch immer wieder in Konzerten – zuletzt erst wieder in Laab im Walde – aber Hintergrundinformation über die Band hatte ich eigentlich nicht. Deshalb bin ich dir für deinen Artikel sehr dankbar – du hast wirklich sehr gründlich recherchiert und alles interessant zusammengefasst.
Da ich “A Höd is a Schiggsoi” bislang nicht kannte, werde ich die Aufführung am Dienstag 22.9. im Spittelberg-Theater besuchen.
Danke und liebe Grüße,
Michael
das klingt ja sehr vielversprechend, werde zusehen, daß ich noch Karten für zumindest 1 Konzert bekomme…
Dank für diesen Tip!
Beste Grüße
Gabriele (Wien)
Vielen Dank für die Blumen!!!!
Stephan Urban
Man kann diese Truppe gar nicht genung über den Klee loben, denn nur ganz selten formen (selbst in Wien) Originalität, Tradition, Anarchie und musikalisches Können so selbstverständlich eine Symbiose wie bei KK und schaffen dabei etwas Neues. Und dass das Live auch noch äusserst witzig, unterhaltsam und trotz des fehlenden Musikstils, purer ‘Rock’n’Roll’ (als Attitüde jetzt) ist, ist noch ein zusätzlicher großer Pluspunkt. Vienna’s finest und vielen Dank für den tollen und äußerst informativen Artikel, der der Band durchaus gerecht wird.
beste Grüße
W.
Da kann ich mich dem vorstehenden Kommentar nur anschliessen. Eine sehr bildreich ausformulierte und äusserst informative Abhandlung über diese ebenso ausser- wie ungewöhnlichen Musiker und die Historie ihrer bisherigen Arbeit.
Auch für “Nicht-Wiener” zu empfehlen.
Toll !!!
Mit artigsten Grüßen
O.
Hallo!
Toller Text und super Infos über die kalksburger, die ich schon länger auf meinem Radar habe. Werde mir sicher live die Ehre geben.
Schöne Grüße aus Österreichs Süden
Oliver
Guten Morgen!
Das freut mich sehr, das sich nun einmal jemand mit dieser Superformation (die mich irgentwie an die Beatles erinnert) auseinandergesetzt hat. Danke für die vielen Backgroundinformationen!
Gruß aus Wolkersdorf
Christine