Vergessene Bücher (1): „Liebe Mutter…“ (M. Millar)

Der kalte Blick auf die Welt

von Bernd Giehl

Sieh mal, Edith, un­ser Kopf ist doch wie ein Dschun­gel, ein dunk­ler, dich­ter Dschun­gel mit Mil­lio­nen klei­nen Pfa­den, zu de­nen das Licht nie dringt. Man ahnt nichts von die­sen Pfa­den, bis auf ei­nem von ih­nen plötz­lich et­was auf­taucht. Und dann, Edith, ver­sucht man, die­ses Et­was zu­rück­zu­ver­fol­gen, man ver­folgt die Spu­ren und Fähr­ten, man geht weit, sehr weit, und stellt am Ende doch wie­der fest, dass der Pfad zu ver­schlun­gen ist, zu licht­los, laut­los, zeit­los…“ (Mar­ga­ret Mil­lar in „Das ei­ser­ne Tor“, 1983, S. 67f.)

Margaret Millar - Liebe Mutter es geht mir gut - Roman Diogenes - Cover Glarean MagazinStel­len Sie sich den Au­tor die­ses Bei­trags ru­hig als al­ten Mann vor. Mit Bas­ken­müt­ze auf dem Kopf und in ab­ge­wetz­ter Cord­ho­se, die schon vor zehn Jah­ren un­mo­dern war. Dazu viel­leicht ein Ja­ckett in Hah­nen­tritt­mus­ter. Und ei­ner Kra­wat­te na­tür­lich, Kra­wat­te muss sein. Und jetzt stel­len Sie sich die­sen Au­tor vor, wie er durch ei­nes die­ser mo­der­nen Buch­kauf­häu­ser geht und an dem Tisch ste­hen­bleibt, auf dem die Rat­ge­ber­li­te­ra­tur in­klu­si­ve der Koch­bü­cher lie­gen und sich vor­stellt, wor­über er sein nächs­tes Buch schrei­ben wird („Durch in­di­sches Ko­chen zum bes­se­ren Selbst“), wie er dann am Tisch mit den Best­sel­ler­au­toren vor­bei­geht, schliess­lich am Bel­le­tris­tik-Re­gal ste­hen­bleibt und nach dem ei­nen oder an­de­ren Buch Aus­schau hält, das lei­der noch nicht in sei­nem Bü­cher­re­gal steht. Nach den Wer­ken von Mar­ga­ret Mil­lar zum Bei­spiel. Kein Buch von ihr zu fin­den. Er tritt an die „In­for­ma­ti­on“ und fragt nach ihr. Die Buch­händ­le­rin sieht im Netz nach und be­dau­ert: kein Buch die­ser Au­torin lie­fer­bar. „Viel­leicht ver­su­chen Sie es mal im Mo­der­nen An­ti­qua­ri­at“, sagt sie zum Ab­schied. Dort kauft er dann ein Dio­ge­nes Bänd­chen die­ser Au­torin für 2 Euro. Ziem­lich ver­gilbt, et­was zer­fled­dert, aber es er­füllt sei­nen Zweck.

Sinnlosigkeit bis in die Form hinein

Ob sich in 20 Jah­ren wohl noch ir­gend je­mand an Mar­ga­ret Mil­lar er­in­nern kann? Das war doch… Ja, ganz rich­tig. 14 Ro­ma­ne und zwei Bän­de mit Er­zäh­lun­gen die­ser Au­torin ste­hen auf ei­ner Lis­te im An­hang des Ban­des „Ein Frem­der liegt in mei­nem Grab“ (Dio­ge­nes Ver­lag 1997). Selbst bei „Ama­zon“ sind der­zeit nur noch zwei Ex­em­pla­re die­ses Bu­ches ge­braucht zu bekommen.
Nun ist Mar­ga­ret Mil­lar bei­lei­be nicht die Ein­zi­ge, der die­ses Schick­sal wi­der­fährt. Weil die Buch­pro­duk­ti­on heu­te so ra­send schnell ist, und weil je­des Jahr Hun­dert­tau­sen­de neu­er Bü­cher her­aus­kom­men (ge­naue Zah­len sie­he beim Bör­sen­ver­ein des deut­schen Buch­han­dels), wer­den die Bü­cher äl­te­rer Au­toren auch schnell zu Alt­pa­pier ver­wan­delt. Wer es nicht bis in den Olymp der Klas­si­ker ge­schafft hat (und wer schafft das schon?), der ist bald nicht mehr da­bei. Der wird aus­sor­tiert, ge­stri­chen, ver­ramscht. Selbst Au­toren, die ein­mal sehr be­kannt wa­ren, trifft die­ses Schick­sal. Oder kennt je­mand noch Hanns Hen­ny Jahnns Rie­sen­ro­man „Fluss ohne Ufer“? Oder gar sei­nen „Per­rud­ja“?

Margaret Millar (1915-1994) - Liebe Mutter es geht mir gut - Roman Diogenes - Cover Glarean Magazin
Mar­ga­ret Mil­lar (1915-1994)

Nun ist es si­cher sehr viel schwie­ri­ger zu er­klä­ren, war­um Hanns Hen­ny Jahnn es nicht bis auf den Olymp ge­schafft hat. Für Mar­ga­ret Mil­lar ist die Er­klä­rung ein­fa­cher. Mil­lars Ro­ma­ne er­zäh­len von ei­ner tief ver­stö­ren­den Welt, aber das hat sich nicht bis in die Form ih­rer Bü­cher durch­ge­fres­sen. Und ge­nau das wer­den die Snobs des deut­schen Li­te­ra­tur­be­triebs ihr vor­wer­fen. Falls sie sich über­haupt so viel Mühe ma­chen und nicht viel­mehr sich mit der Er­klä­rung be­gnü­gen, Kri­mi­au­to­ren schrie­ben nun ein­mal Bü­cher, die man nicht ernst neh­men müs­se. Tho­mas Pyn­chon springt in „Ge­gen den Tag“ von ei­ner Ge­schich­te zur nächs­ten, und wer nicht ein aus­ser­ge­wöhn­lich gu­tes Ge­dächt­nis hat, der wird sich ir­gend­wann ver­zwei­felt fra­gen, wer Mer­le Ri­deout oder Lew Bas­night doch noch war, oder wie all die­se Ge­schich­ten ei­gent­lich zu­sam­men­ge­hö­ren. Ro­ber­to Bol­a­nos Ro­man „2666“ er­zählt eben­falls Ge­schich­ten, von de­nen man sich ir­gend­wann ver­zwei­felt fragt, was sie ei­gent­lich zu­sam­men­hält. Im Mit­tel­punkt steht eine Mord­se­rie an Hun­der­ten von Pro­sti­tu­ier­ten (und der Au­tor schil­dert sie Fall für Fall ab, als wäre er Mit­glied der Son­der­kom­mis­si­on zur Auf­klä­rung die­ser Mor­de). Stumpf, den Le­ser er­mü­dend und ohne jede in­ne­re Be­tei­li­gung. Mit den fast im­mer glei­chen Wor­ten. Ver­mut­lich woll­te er mit „2666“ be­wei­sen, dass die Welt sinn­los ist. Die­se Sinn­lo­sig­keit ist bis in die Form hin­ein zu spüren.

Keine stilistischen Experimente

Das ist bei Mil­lar deut­lich an­ders. Nicht etwa, dass ihre Kri­mi­nal­ro­ma­ne nicht auch so et­was wie ei­nen ex­pe­ri­men­tel­len Cha­rak­ter hät­ten, aber der steht nicht so im Vor­der­grund wie bei den ge­nann­ten Au­toren der Post­mo­der­ne. Man muss ihre Ro­ma­ne nicht ein­mal selbst zu­sam­men­bau­en wie bei Italo Cal­vi­nos „Wenn ein Rei­sen­der in ei­ner Winternacht…“
Er­staun­li­cher­wei­se ha­ben die hoch­ex­pe­ri­men­tel­len Ro­ma­ne von Pyn­chon oder Bol­a­no ge­ra­de Kon­junk­tur. Wo­mög­lich möch­te sich der in­tel­lek­tu­el­le Bo­he­mi­en von den ge­nann­ten Au­toren ja be­stä­ti­gen las­sen, dass die Welt, so wie wir sie ge­ra­de er­le­ben, sinn­los ist. Und wer nach dem Le­sen von Bol­a­nos „2666“ im­mer noch nicht ge­nug hat, wer also im­mer noch ei­nen Fun­ken Hoff­nung oder gar Le­bens­freu­de in sich spürt, der kann ja noch Da­vid Fos­ter Wal­lace „In­fi­ni­te Jest“ le­sen, zu Juli Zehs „Spiel­trieb“ grei­fen oder zu He­le­ne He­ge­mann, die­sem alt­klu­gen Kind, das mit 16 glaubt, schon mehr er­lebt zu ha­ben als an­de­re mit 50 Jahren.

Originaltitel von Millars
Ori­gi­nal­ti­tel von Mil­lars „Be­ast in View“ in der TV-Se­rie „The Al­fred Hitch­cock Hour“

Die Ro­ma­ne von Mar­ga­ret Mil­lar funk­tio­nie­ren an­ders. Sie sind zwar tief ver­stö­rend, aber am Ende kann sich zu­min­dest ein Ge­fühl von „Sinn“ ein­stel­len. So pa­ra­no­id das eine oder an­de­re ih­rer Bü­cher auch sein mag, so gibt die Au­torin doch zu­min­dest eine Er­klä­rung für das, was ge­sche­hen ist. Sie ver­wei­gert sich nicht wie Pyn­chon und sie lässt den Le­ser auch nicht mit sei­nen Fra­gen al­lein wie Bol­a­no. Wer mag, kann das alt­mo­disch fin­den und mei­nen, es pas­se nicht mehr in die Zeit. Den­noch zie­he ich per­sön­lich ihre Ro­ma­ne der oben­ge­nann­ten Li­te­ra­tur vor. Viel­leicht hat das ja auch da­mit zu tun, dass ich mir nicht die al­ler­letz­te Hoff­nung rau­ben las­sen möchte.

Kaum Verfilmungen von Millar-Romanen

Par­al­le­len? Ich den­ke, ei­ni­ge Ro­ma­ne von Pa­tri­cia High­s­mith oder Paul Aus­ter ha­ben eine ähn­li­che The­ma­tik und ar­bei­ten mit ähn­li­chen Mit­teln. Alle drei ex­pe­ri­men­tie­ren mit dem Un­be­wuss­ten, dem Zu­fall und dem Schre­cken, der aus all dem ent­ste­hen kann. Nur dass Mar­ga­ret Mil­lar (1915-1994) lan­ge nicht so be­kannt ist wie Pa­tri­cia High­s­mith, die im glei­chen Zeit­raum leb­te (1921-1995), und ob­wohl bei­de doch ganz ähn­li­che The­men be­han­deln, auch ihr Stil Ähn­lich­kei­ten auf­weist. Ganz zu schwei­gen von Al­fred Hitch­cock, der zwar kei­ne Bü­cher schrieb, da­für aber Fil­me dreh­te, die mit fil­mi­schen Mit­teln eine ganz ähn­li­che Welt zei­gen. Üb­ri­gens hat Hitch­cock auch Ro­ma­ne der High­s­mith ver­filmt (z.B. „Zwei Frem­de im Zug“), Mar­ga­ret Mil­lar da­ge­gen ist die­ses Glück nur aus­nahms­wei­se zu­teil ge­wor­den. Wer weiss, ob sie an­dern­falls nicht viel prä­sen­ter im kul­tu­rel­len Ge­dächt­nis wäre.

Mar­ga­ret Mil­lar war ver­hei­ra­tet mit Ken­neth Mil­lar, bes­ser be­kannt un­ter dem Pseud­onym Ross Mac­do­nald, dem Ver­fas­ser ei­ni­ger „hart­ge­sot­te­ner Kri­mi­nal­ro­ma­ne“ mit dem Pri­vat­de­tek­tiv Lew Ar­cher. Üb­ri­gens leg­te sich ihr Ehe­mann sei­ner­zeit den Künst­ler­na­men zu, weil sei­ne Frau da­mals sehr viel er­folg­rei­cher war als er selbst. Nicht im­mer wol­len Män­ner im Schat­ten ih­rer Frau ste­hen. Heu­te da­ge­gen steht Mar­ga­ret Mil­lar in sei­nem Schat­ten.  Manch­mal ist das Le­ben ungerecht.
Aber na­tür­lich hat un­se­re Au­torin das ge­wusst. Wo­mög­lich hät­te sie sich so­gar dar­über amü­siert. Sie kann­te die Men­schen. Wahr­schein­lich bes­ser, als die meis­ten sich selbst ken­nen. Mar­ga­ret Mil­lar hat­te den kal­ten Blick auf die Welt, den nicht gar so vie­le Au­toren be­sit­zen. Ich glau­be nicht, dass sie die Men­schen lieb­te. Da­für sind ihre Ro­ma­ne zu bos­haft ge­schrie­ben. Es wäre reiz­voll, eine Bio­gra­phie über sie zu le­sen, aber wenn es eine gibt, dann ken­ne ich sie nicht.

Patricia Highsmith - Autorin - Glarean Magazin
Pro­mi­nen­te Kon­kur­ren­tin und Mil­lar-Zeit­ge­nos­sin: Pa­tri­cia Highsmith

Auf je­den Fall wäre es reiz­voll zu wis­sen, wel­chen Un­ter­schied es gibt zwi­schen ih­rem Le­ben und ih­ren li­te­ra­ri­schen Ideen.
Denn die ha­ben es in sich. Gleich mit den ers­ten Sät­zen er­zeugt sie eine Span­nung, die bis zur letz­ten Sei­te an­hält. „Die Stim­me war sanft, bei­na­he lä­chelnd: ‚Ist dort Miss Clarvoe?‘
‚Ja.‘
‚Wis­sen Sie, wer da spricht?‘
‚Nein.‘
‚Eine Freundin.‘
‚Ich habe un­zäh­li­ge Freun­din­nen‘, log Miss Clarvoe…
‚Wir ha­ben uns schon lan­ge nicht mehr ge­se­hen‘, sag­te die Stim­me. ‚Trotz­dem habe ich Sie im­mer ir­gend­wie im Auge be­hal­ten. Ich habe näm­lich eine Kristallkugel.‘“
Mit die­sen Wor­ten be­ginnt der Ro­man „Lie­be Mut­ter, es geht mir gut…
He­len Clar­voe kennt die An­ru­fe­rin nicht, und ge­ra­de das be­un­ru­higt sie. Al­ler­dings kann man bei ih­rer Aus­sa­ge, sie ken­ne Eve­lyn Mer­rick nicht, zwei­feln, denn gleich auf der ers­ten Sei­te cha­rak­te­ri­siert die (all­wis­sen­de) Er­zäh­le­rin Miss Clar­voe als pro­fes­sio­nel­le Lügnerin.

Alte Jungfer von 30 Jahren als Roman-Heldin…

Eine alte Jung­fer von 30 Jah­ren als Hel­din ei­nes Ro­mans, noch dazu eine, die schon ganz am An­fang als kalt, ver­schlos­sen und vom Le­ben ent­täuscht ge­schil­dert wird; wem könn­te das sonst noch ein­fal­len? Un­sym­pa­thi­scher als He­len Clar­voe kann man ei­gent­lich nicht mehr sein. Mit we­ni­gen Sät­zen kann Mil­lar ihre „Hel­din“ cha­rak­te­ri­sie­ren. Nicht ein­mal Pa­tri­cia High­s­mith hat so eine Per­son in den Mit­tel­punkt ih­rer Ro­ma­ne ge­stellt. (Aber die hat­te na­tür­lich auch ihre Grün­de.) Nach­dem sie sich bei der Te­le­fo­nis­tin, die die An­ru­fe im Apart­ment­haus, in dem sie wohnt, nach der An­ru­fe­rin er­kun­digt hat, wird Miss C. mit fol­gen­den Wor­ten be­schrie­ben: „Miss Clar­voe häng­te ab. Sie wuss­te, wie man mit June und ih­res­glei­chen um­zu­ge­hen hat­te. Man häng­te ab. Man un­ter­brach die Ver­bin­dung. Was Miss Clar­voe sich nicht klar­mach­te, war, dass sie in ih­rem Le­ben be­reits zu vie­le Ver­bin­dun­gen un­ter­bro­chen hat­te. Sie hat­te zu oft, zu schnell und schon bei zu vie­len Men­schen ab­ge­hängt. Jetzt, mit Dreis­sig, war sie al­lein.“ (S. 10) Nicht nur Eve­lyn Mer­rick be­sitzt eine Kris­tall­ku­gel, in der sie die Clar­voe beobachtet.
Wer aber nun glaubt, dass He­len Clar­voe die ein­zi­ge ist, die von ih­rer Schöp­fe­rin mit je­nem eis­kal­tem Blick be­ob­ach­tet wird, der täuscht sich. June, die Te­le­fo­nis­tin, ist be­schwipst, als sie zu Miss Clar­voe geht, weil die sie dar­um ge­be­ten hat. Und den Sher­ry, den ihre Gast­ge­be­rin ihr an­bie­tet, schlägt sie na­tür­lich auch nicht aus. Wo­mög­lich ist das Le­ben nur noch be­trun­ken zu er­tra­gen, selbst wenn man kei­ne Droh­an­ru­fe von ei­ner an­geb­li­chen Freun­din er­hält. Mr. Blackshear, ihr Ver­mö­gens­ver­wal­ter, den die Clar­voe um Hil­fe an­geht, ist 50 Jah­re alt, und für ihn hat „der Win­ter der Lee­re ein­ge­setzt, und dort, wo ein­mal et­was in sei­nem In­ne­ren zer­bro­chen war, hat­te sich Frost ge­bil­det.“ (S. 20) Ei­gent­lich, so denkt man, kann nichts mehr pas­sie­ren, was die­se Herr­schaf­ten aus ih­rer Er­star­rung her­aus­ho­len könn­te.  Dass es aber den­noch pas­siert ist, nicht die ge­rings­te al­ler Küns­te, die Mar­ga­ret Mil­lar beherrscht.

Klaustrophobischer Handlungs-Raum

Im Gegensatz zur Ehefrau weltberühmt geworden: Krimi-Autor Kenneth Millar alias Ross MacDonald
Im Ge­gen­satz zur Ehe­frau welt­be­rühmt ge­wor­den: Kri­mi-Au­tor Ken­neth Mil­lar ali­as Ross MacDonald

Doch dazu be­darf es nun ei­nes Raums, den die Au­torin schafft. Und die­ser Raum, man kann es nicht an­ders sa­gen, ist klaus­tro­pho­bisch. Man be­kommt Luft­not, wenn man sich zu lang in ihm auf­hält. Ver­mut­lich kann man die­sen Raum nicht un­be­dingt „rea­lis­tisch“ nen­nen, aber Au­toren – Au­torin­nen sind selbst­ver­ständ­lich im­mer mit ge­meint – schaf­fen nun ein­mal ihr ei­ge­nes Uni­ver­sum. Selbst wenn man sich ver­bar­ri­ka­diert, wie He­len Clar­voe es spä­tes­tens nach dem An­ruf von Eve­lyn Mer­rick tut, gibt es im­mer noch das Te­le­fon, das ei­nen mit der Aus­sen­welt ver­bin­det. Oder die in­ne­ren Stim­men, die ei­nen nicht in Ruhe lassen.
Aber selbst wenn auch die schwei­gen, gibt es da ja noch Eve­lyn Mer­rick, die mit ih­ren An­ru­fen und An­deu­tun­gen, die lei­der oft ge­nug auf Wahr­heit be­ru­hen, ei­nen Men­schen ja­gen und schliess­lich so­gar in den Tod trei­ben kann. Es ist nicht nur He­len Clar­voe, auf die sie es ab­ge­se­hen hat. Ihr Hass reicht tie­fer. Sie macht ein paar ge­häs­si­ge Be­mer­kun­gen über Dou­glas, He­lens jün­ge­ren Bru­der, ge­gen­über Mrs. Clar­voe; ent­hüllt da­bei der Mut­ter Dou­glas‘ Ho­mo­se­xua­li­tät, die er bis da­hin er­folg­reich ver­ber­gen konn­te, und treibt den jun­gen Mann da­mit in den Tod. Was im Jahr 2011, wo zu­min­dest in Deutsch­land vie­le sich of­fen zu ih­rer Ho­mo­se­xua­li­tät be­ken­nen, ziem­lich un­wahr­schein­lich klingt, ist im prü­den Ame­ri­ka der fünf­zi­ger oder sech­zi­ger Jah­re durch­aus vor­stell­bar. Nur ein ein­zi­ges Mal greift Miss Mer­rick selbst zur Waf­fe; in den an­de­ren Fäl­len treibt sie ihre Op­fer al­lein durch ihre Wor­te in den Tod. Und am Ende pas­siert das, was pas­sie­ren muss: Eve­lyn Mer­rick und He­len Clar­voe ver­schmel­zen zu ei­ner ein­zi­gen Per­son, und das ist dann auch das Ende.

Es ist eine ab­ge­schlos­se­ne Welt, in der al­les sei­nen gna­den­lo­sen Gang geht. Und die Haupt­fi­gu­ren sind ent­we­der hys­te­risch wie He­len Clar­voe oder pa­ra­no­id. Das ist üb­ri­gens auch ein Kenn­zei­chen der an­de­ren Ro­ma­ne von Mar­ga­ret Mil­lar, je­den­falls, so­weit ich sie ken­ne. Es sind nicht die nor­ma­len Men­schen, an de­nen die Mil­lar in­ter­es­siert war. Eher schon die, die aus der Norm her­aus­fal­len. Men­schen, die sich ver­folgt füh­len oder die die Rea­li­tät ver­drän­gen und sich in eine Schein­welt flüch­ten. Men­schen also, die eher schwach sind.
In­ter­es­sant ist schliess­lich auch, dass ihre Haupt­fi­gu­ren alle weib­lich sind. Je­den­falls trifft das für die Ro­ma­ne zu, die ich ge­le­sen habe, also „Lie­be Mut­ter, es geht mir gut“, „Ein Frem­der liegt in mei­nem Grab“, „Von hier an wird’s ge­fähr­lich“, „Die Fein­din“ und „Das ei­ser­ne Tor“. Die Män­ner, de­nen man in ih­ren Ro­ma­nen be­geg­net, sind da­ge­gen eher sym­pa­thisch ge­zeich­net. Sie sind hilfs­be­reit wie Mr. Blackshear, der Freund von Miss Clar­voe oder wie Ralph MacPher­son, der An­walt, der Mrs. Oak­ley, eine der Haupt­fi­gu­ren aus „Die Fein­din“ im­mer wie­der in die Rea­li­tät zu­rück­holt. Sie mö­gen schwach sein, wie Char­lie Go­wen, (eben­falls eine wich­ti­ge Fi­gur in der „Fein­din“), aber selbst ihre Welt­fremd­heit hat et­was selt­sam Sym­pa­thi­sches.  Ob Mar­ga­ret Mil­lar eine Wei­ber­has­se­rin war? Aus ih­ren Ro­ma­nen könn­te man es zu­min­dest herauslesen.

Angesiedelt in der amerikanischen 60er-Mittelschicht

Original-Cover der amerikanischen Bantam-Ausgabe von Millars
Ori­gi­nal-Co­ver der ame­ri­ka­ni­schen Ban­tam-Aus­ga­be von Mil­lars „Be­ast in View“ (1955/56)

Den­noch ist der Kos­mos, den sie mit ih­ren Wor­ten er­schafft, an­ders als jene von bei­spiels­wei­se Kaf­ka, im­mer noch die Welt, die wir ken­nen. Er ist an­ge­sie­delt in der ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­schicht der fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jah­re, und die De­tails sind lie­be­voll be­schrie­ben und da­mit wie­der­erkenn­bar. Hin und wie­der ent­steht ge­ra­de aus der Schwä­che der Haupt­fi­gu­ren die Be­dro­hung. Es sind nicht die Star­ken, die die Welt be­droh­lich ma­chen, son­dern die Schwa­chen. Das gilt viel­leicht we­ni­ger für He­len Clar­voe, die nur noch flieht, wohl aber für Mrs. Oak­ley, die Hys­te­ri­ke­rin aus „Die Fein­din“, und eben­so auch für Char­lie Gower, der eben­falls eine wich­ti­ge Rol­le in der „Fein­din“ spielt.
Wer se­hen möch­te, mit welch un­ter­schied­li­chen Mit­teln Mar­ga­ret Mil­lar eine Welt der Angst auf­bau­en kann, der lese nach­ein­an­der „Lie­be Mut­ter, mir geht es gut“ und „Die Fein­din“. In „Lie­be Mut­ter“ gibt es nur He­len Clar­voe als Fo­kus, und der Auf­bau der Be­dro­hung pas­siert schnell. In der „Fein­din“ wech­selt der Fo­kus im­mer wie­der von Kate Oak­ley, die sich vor ih­rem (ge­trennt von ihr le­ben­den) Mann fürch­tet und de­ren Angst ge­ra­de­zu hys­te­risch ist, zu Jes­sie Brant und Mary Mar­tha Oak­ley, zwei neun­jäh­ri­gen Kin­dern, die be­freun­det sind, zu Char­lie Gower, der eine Schwä­che für Kin­der hat, dann zu Vir­gi­nia und Ho­ward Ar­ling­ton, ei­nem Ehe­paar im be­gin­nen­den Kriegs­zu­stand, der wie­der­um durch Vir­gi­ni­as Lie­be zu Jes­sie aus­ge­löst wird. Die Span­nung ist sub­ti­ler, und lan­ge fragt der Le­ser sich, wel­che der Per­so­nen denn nun die Ka­ta­stro­phe aus­lö­sen wird, die bei Mar­ga­ret Mil­lar un­wei­ger­lich am Ende ste­hen wird. Und na­tür­lich ist es wie­der an­ders, als man es sich ge­dacht hat. Aber das kennt man ja aus fast je­dem Krimi.
Eine sol­che Welt, be­droh­lich, tü­ckisch und doch zu­min­dest halb­wegs rea­lis­tisch, ken­ne ich ei­gent­lich nur noch aus ei­ni­gen Ro­ma­nen der High­s­mith, aus den Kri­mis von Bar­ba­ra Vine oder aus Paul Aus­ters „Le­via­than“.

Subtile Beschreibungen von Ängsten und Schmerzen

Kürz­lich las ich in der „Zeit“ eine Re­por­ta­ge über eine Rei­se zu den Fol­ter­ge­fäng­nis­sen der Ro­ten Khmer, die von 1975-1979 Kam­bo­dscha re­gier­ten und zu­grun­de rich­te­ten. Der Ar­ti­kel ist aus An­lass des ers­ten Pro­zes­ses ei­nes in­ter­na­tio­na­len Ge­richts­hofs über ein Mit­glied der Ro­ten Khmer ge­schrie­ben. Auch wer sich nicht mehr an die­se Zeit er­in­nert, viel­leicht weil er zu jung ist, wird aus dem Ar­ti­kel von Su­san­ne May­er „Spu­ren des Schmer­zes“ („Die Zeit“, Nr. 29 vom 15. Juli 2010, S. 46/47) das Grau­en ler­nen kön­nen. Auf ei­ner Ta­fel in ei­nem Fol­ter­ge­fäng­nis, das Su­san­ne May­er be­sucht hat, steht der Satz: „Wäh­rend der Elek­tro­schocks ist es ver­bo­ten zu schreien.“
Mag sein, dass es ir­gend­wann ei­nen Ro­man über die Herr­schaft der Khmer Rouge in Kam­bo­dscha ge­ben wird. Wo­mög­lich wird er ja ins Deut­sche über­setzt. Zwar hat Ador­no sei­ner­zeit be­haup­tet, nach Ausch­witz Ge­dich­te zu schrei­ben sei un­mög­lich, aber es gab nicht nur Ge­dich­te nach Ausch­witz; es gab so­gar wel­che über das Un­sag­ba­re. Paul Ce­lan hat sie ge­schrie­ben. Und Pri­mo Levi hat ei­nen Ro­man über die Ver­nich­tungs­la­ger ge­schrie­ben; Elie Wie­sel oder Wies­law Kielar ha­ben aus ih­rer ei­ge­nen Er­fah­rung über die Ver­nich­tungs­la­ger ge­schrie­ben. Wo­mög­lich gibt es kein Grau­en, das nicht ir­gend­wann ein­mal li­te­ra­risch ver­ar­bei­tet wird. Ein­zig die Zeit, die ver­ge­hen muss, bis ein sol­ches Ge­sche­hen sei­nen Weg in die Welt des Ro­mans fin­det, spielt eine ge­wis­se Rol­le. Es dau­ert eben, bis man die nö­ti­ge Di­stanz hat, das Ent­set­zen in Wor­te zu fas­sen. Aber falls je ein Ro­man über die Herr­schaft der Khmer Rouge er­schei­nen wird, glau­be ich nicht, dass ich ihn le­sen wer­de. Es gibt ein Leid, das ich mir gern er­spa­ren möch­te. Ob­wohl ich an­de­rer­seits auch ver­ste­he, wenn ein Be­trof­fe­ner die­ses Leid durch das Schrei­ben ei­nes Ro­mans „ver­ar­bei­ten“ will.

... ist eine Essay-Reihe, in der das Glarean Magazin wöchentlich Werke vorstellt, die vom kultur-medialen Mainstream links liegengelassen oder überhaupt von der
… ist eine Es­say-Rei­he, in der das Glarean Ma­ga­zin wö­chent­lich Wer­ke vor­stellt, die vom kul­tur-me­dia­len Main­stream links lie­gen­ge­las­sen oder über­haupt von der „of­fi­zi­el­len“ Li­te­ra­tur­ge­schich­te igno­riert wer­den, aber nichts­des­to­we­ni­ger von li­te­ra­ri­scher Be­deu­tung sind über alle mo­di­sche Ak­tua­li­tät hin­aus. Die Au­toren der Rei­he pfle­gen ei­nen be­tont sub­jek­ti­ven Zu­gang zu ih­rem je­wei­li­gen Ge­gen­stand und wol­len we­ni­ger be­leh­ren als viel­mehr er­in­nern und interessieren.

Den­noch sind mir of­fen­sicht­lich fik­ti­ve Wer­ke wie die Ro­ma­ne von Mar­ga­ret Mil­lar lie­ber. Sie spie­len mit mei­nen Ängs­ten, aber sie über­schrei­ten die Gren­ze nicht. Sie re­spek­tie­ren den Schutz­raum, den das In­di­vi­du­um braucht, um zu überleben.
Nä­her möch­te ich ei­gent­lich nicht mehr her­an. Das ist der Un­ter­schied zwi­schen Mar­ga­ret Mil­lar und – pars pro toto – Ro­ber­to Bol­a­no. Wo­mög­lich kann man mit eben­sol­chem Recht sa­gen: Die Welt ist nun ein­mal grau­sam, und wir sind so ab­ge­stumpft, dass nur noch neue For­men uns aus un­se­rer Le­thar­gie reis­sen kön­nen. Aus­ser­dem ent­spricht das Ab­bild, das Bol­a­no, Pyn­chon und tut­ti quan­ti von der Welt lie­fern, viel eher der mo­der­nen Er­fah­rung des Aus­ge­lie­fert-Seins an an­ony­me Mäch­te, die wir kaum noch er­ken­nen, ge­schwei­ge denn be­schrei­ben kön­nen, als die Ro­ma­ne von Mar­ga­ret Mil­lar, wo die Be­dro­hung von ei­nem In­di­vi­du­um aus­geht, des­sen Na­men man kennt, und des­sen Mo­ti­ve nach und nach sicht­bar wer­den. Und selbst wenn es die Be­woh­ner der Klein­stadt sind, die ei­nen wie Char­lie Go­wen aus der „Fein­din“ im­mer mehr ein­krei­sen, so „kennt“ man doch als Le­ser die Na­men und Gesichter.
Man kann also sa­gen: die Ro­ma­ne von Bol­a­no, Pyn­chon, Zeh oder der an­de­ren Shoo­ting Stars der Post­mo­der­ne ent­spre­chen viel eher der heu­ti­gen Le­bens­er­fah­rung. Sie bil­den die Wirk­lich­keit von heu­te viel bes­ser ab als eine Mar­ga­ret Mil­lar. Ich wür­de die­ser The­se nicht ein­mal wi­der­spre­chen wol­len. Den­noch zie­he ich Mar­ga­ret Mil­lar vor und ver­wei­se auf den An­fang die­ses Es­says:. Ein biss­chen Di­stanz hal­te ich für an­ge­bracht. Selbst wenn das alt­mo­disch klin­gen sollte.

Unfreiwille Stilblüten aufgrund mangelhafter Übersetzung

Noch ein Wort zur Über­set­zung: „Lie­be Mut­ter, es geht mir gut“ ist 1955 in New York auf Eng­lisch er­schie­nen und 1967 von Eliza­beth Gil­bert über­setzt wor­den. Die Spra­che er­scheint oft ge­stelzt. „Miss Hud­sons Büro war kunst­voll der Wer­bung neu­er Schü­le­rin­nen an­ge­passt.“ (S. 47) Eine Te­le­fo­nis­tin gibt kei­nen An­ruf durch; sie stellt ihn durch. Ich wüss­te auch nie­man­den, der „ab­hängt“, wenn er ein Te­le­fo­nat be­en­det; die meis­ten le­gen auf. Letz­te­res lie­fert ei­nen Hin­weis auf die Mut­ter­spra­che der Über­set­ze­rin, falls das der Vor­na­me nicht schon ge­tan hat. „She hung up“ heisst es im Eng­li­schen, wenn eine Frau das Te­le­fon auf­legt. Eliza­beth Gil­berts Mut­ter­spra­che ist ver­mut­lich Eng­lisch, aber zu­min­dest hät­te ein Lek­tor oder eine Lek­to­rin noch ein­mal über den Text schau­en kön­nen. Auch in an­de­ren Ro­ma­nen von Mar­ga­ret Mil­lar, die sie über­setzt hat, habe ich un­ge­wöhn­li­che Re­de­wen­dun­gen und Stil­blü­ten ge­fun­den. Falls also Mar­ga­ret Mil­lars Ro­ma­ne noch ein­mal auf­ge­legt wer­den, was ich sehr hof­fe, dann soll­ten sie mög­lichst auch gleich neu über­setzt werden. ●


Bernd Giehl - Glarean MagazinBernd Giehl

Geb. 1953 in Marienberg/D, Stu­di­um der Theo­lo­gie in Mar­burg, zahl­rei­che schrift­stel­le­ri­sche und theo­lo­gi­sche Pu­bli­ka­tio­nen, lebt als evang. Pfar­rer in Nauheim

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin aus der Rei­he „Ver­ges­se­ne Bü­cher“ auch von Ma­ri­an­ne Figl: Die Of­fi­zie­rin (Na­desh­da Durowa)

2 Kommentare

  1. Eine schö­ne Idee, an der ich mich bei Ge­le­gen­heit gern be­tei­li­ge. Ueb­ri­gens: In mei­ner Bi­blio­thek, Ab­tei­lung Kri­mi­nal­ro­ma­ne, ste­hen die Ge­sam­mel­ten Wer­ke Mar­ga­ret Mil­lars. In Tuch­füh­lung mit de­nen von Ross McDonald.

    Mit freund­li­chen Grüssen

    Wolf­ram Mal­te Fues
    Prof. Dr. phil.

  2. Dan­ke, da ma­che ich ger­ne mit! Eine wun­der­ba­re, längst fäl­li­ge Idee.
    Für mich aber et­was später……Zur Zeit bin ich über­wie­gend mit ge­sund­heit­li­chen Pro­ble­men beschäftigt.
    Schö­ne Pfingsten!

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