Rostropowitsch: Cello-Suiten von J. S. Bach (CD)

Verliebt in Musik

von Michael Magercord

Pra­ger Früh­ling” ist alle Jahre, und ver­liebt sind im Mai an der Mol­dau so man­che, aber nicht in jedem Jahr hin­ter­lässt das grösste mit­tel­eu­ro­päi­sche Fes­ti­val der klas­si­schen Musik der­art schöne musi­ka­li­sche Spu­ren des Früh­lings­ge­fühls wie diese Ein­spie­lung aller sechs Cello-Sui­ten von Bach durch den damals frisch ver­lieb­ten Musi­ker Mst­is­law L. Rostropowitsch.

Mstislaw L. Rostropowitsch - Johann Sebastian Bach - Cello-Suiten - Supraphon ArchivTief ins Archiv des Tsche­chi­schen Rund­funks musste gegrif­fen wer­den, um die Auf­nah­men der bei­den Auf­füh­run­gen vom 26. und 27. Mai des Jah­res 1955 her­aus­zu­fi­schen, die sich nun auf die­ser Dop­pel-CD befin­den. Der damals 24-jäh­rige rus­si­sche Cel­list hatte sich zuvor bereits auf dem Kon­ser­va­to­rium in Mos­kau nicht zuletzt durch seine Inter­pre­ta­tion die­ser Cello-Sui­ten einen Namen gemacht. Viele Cel­lis­ten trauen sich eigent­lich erst auf der Höhe ihrer Spiel­kunst an Bachs Meis­ter­werke. Lange Zeit gal­ten sie gar als unspiel­bar, erst als Robert Schu­mann eine Kla­vier­be­glei­tung hin­zu­fügte und die Cel­lo­sätze dafür etwas ver­ein­fachte, wur­den sie wie­der öfter gespielt. Der Cel­list Pablo Casal war es, der sie schliess­lich Anfang des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts als ers­ter kom­plett und solo aufführte.

Jugendliches Herangehen an Bach

Einst als unspielbar eingestuft: Bach-Autograph der 6. Cello-Suite
Einst als unspiel­bar ein­ge­stuft: Bach-Auto­graph der 6. Cello-Suite

Heute wie­derum hat eigent­lich jeder Cel­list von Rang die Sui­ten auf­ge­führt oder gar ein­ge­spielt, Mst­is­law Rostro­po­witsch sogar mehr­fach. Legen­där ist sein spon­ta­nes Kon­zert im Novem­ber 1989 vor der poli­tisch zwar schon gefal­le­nen, aber noch bestehen­den Ber­li­ner Mauer nahe des Check­point Char­lie, und ebenso jene als DVD erhält­li­che Ein­spie­lung in der Basi­lika Sankt Made­leine der bur­gun­di­schen Abtei Vézelay 1991. Und immer wie­der hat der 2007 ver­stor­bene Musi­ker dabei seine zuvor gemachte Ein­spie­lung als feh­ler­haft kritisiert.
Davon wird auch diese nun vor­lie­gende Auf­nahme aus den jun­gen Jah­ren wohl nicht aus­ge­spart geblie­ben sein, wenn­gleich nicht über­lie­fert ist, was genau ihm daran nicht gefal­len hat. Da lässt sich also wun­der­bar spe­ku­lie­ren, denn viel­leicht könnte es die jugend­li­che Art des Her­an­ge­hens an die Stü­cke gewe­sen sein, die sein Miss­fal­len in den rei­fen Jah­ren gefun­den haben mag. Und viel­leicht war ja die etwas unge­stüme Aus­füh­rung eben sei­ner Ver­liebt­heit geschul­det, die ihn in den Tagen in Prag über­kam. Dort hatte er näm­lich die rus­si­sche Sän­ge­rin Galina Wisch­news­kaja, die eben­falls auf dem “Pra­ger Früh­ling” kon­zer­tierte, ken­nen­ge­lernt. Es muss hef­tig gefunkt haben, denn nur vier Tage nach der Rück­kehr nach Mos­kau ver­ehe­lich­ten sich beide mit­ein­an­der. Es heisst, Rostro­po­witsch hätte nicht ein­mal die Gele­gen­heit gehabt, seine zukünf­tige Frau vor der Ehe sin­gen gehört zu haben.

Die schnellsten Einspielungen

Diese bereits über 55 Jahre zurückliegende Aufführung der Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach durch Mstislaw Rostropowitsch taugen ihrer ungewöhnlich gestümen, aber nie ungestümen Ausführung wegen sowohl als Referenzaufnahme als auch zum Hörgenuss für den Liebhaber einzigartiger Musik.
Diese bereits über 55 Jahre zurück­lie­gende Auf­füh­rung der Cello-Sui­ten von Johann Sebas­tian Bach durch Mst­is­law Rostro­po­witsch tau­gen ihrer unge­wöhn­lich gestü­men, aber nie unge­stü­men Aus­füh­rung wegen sowohl als Refe­renz­auf­nahme als auch zum Hör­ge­nuss für den Lieb­ha­ber ein­zig­ar­ti­ger Musik.

Soll man also sagen, in die­ser Aus­füh­rung der Bach­schen Meis­ter­werke steckt noch nicht die tiefe reife Liebe, dafür aber eine umso stür­mi­sche Ver­liebt­heit? Es han­delt sich jeden­falls um eine der kür­zes­ten also auch schnells­ten Ein­spie­lun­gen der Cello-Sui­ten, die dabei trotz­dem nichts an Prä­zi­sion zu wün­schen übrig las­sen. Ein­zig der schwers­ten, näm­lich der fünf­ten Suite meint man anzu­mer­ken, dass der spä­ter so sou­ve­räne Cel­list noch nicht ganz auf der Höhe sei­nes Kön­nens ange­langt war. Diese Suite erfor­dert eine beson­dere Spiel­tech­nik auf den heu­ti­gen 4-sai­ti­gen Instru­men­ten, waren doch zu Bachs Zei­ten Cel­los noch meist 5-sai­tig. Es mag die Hemm­nis vor den tech­ni­schen Schwie­rig­kei­ten sein, die dazu führt, dass diese Suite in die­ser Auf­nahme um etli­ches län­ger dau­ert, als in den Auf­nah­men des rei­fe­ren Instru­men­ta­lis­ten oder auch jenen ande­rer Cel­lis­ten. Doch schon in der anschlies­sen­den, lange Zeit als völ­lig unspiel­bar gel­ten­den sechs­ten Suite kann man wie­der die­selbe Spiel­freude der vier vor­he­ri­gen vernehmen.

Referenzaufnahmen der Bach’schen Cello-Suiten

Diese Auf­nah­men kön­nen wohl getrost in die Reihe der Refe­renz­auf­nah­men der Cello-Sui­ten von Bach auf­ge­nom­men wer­den, und zugleich sind sie ein Hör­ge­nuss für Lieb­ha­ber gross­ar­ti­ger Musik. Und dass hier alles noch Mono abge­spielt wird, dürfte bei einem Ein­zelin­stru­ment wahr­lich kein son­der­li­chen Nach­teil dar­stel­len. Nicht ein­mal der mit­ein­ge­spielte Applaus am Ende der jewei­li­gen Sui­ten stört das Hören, denn er zeigt noch eine wei­tere ange­nehme Seite jener Zeit: Damals schien das Publi­kum erwach­sen und von rei­fer Liebe zur Musik beseelt, jeden­falls applau­diert es reich­lich, aber nicht mit dem unrei­fen Über­schwang, wie man ihn in den Kon­zert­sä­len heut­zu­tage allzu oft ertra­gen muss, und der am Schluss eines Wer­kes kaum mehr Raum lässt für eine kurze nach­drück­li­che innere Rück­schau auf das zuvor Gehörte und die würde viel­leicht eine wirk­lich gereifte Liebe zur Musik erst ermöglichen… ♦

Johann Sebas­tian Bach: Cello Sui­tes BWV 1007-1012, Mst­is­law Rostro­po­witsch (Live-Auf­nahme 1955, Rudol­finum Prag), Dop­pel-CD, Supra­phon 2011

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Cello-Musik auch über Sol Gabetta (Cello): Elgar, Dvorák, Res­pighi, Vasks

… sowie zum Thema Cel­lis­ten über die CD von San­dra Lied Haga mit Wer­ken von Tschai­kow­sky und Dvorak

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