Interview mit der Claudius-Biographin A. Kranefuss

Primat der Realität vor aller Kunst

von Gün­ter Nawe

Un­längst wür­dig­te un­ser Ma­ga­zin die bei Hoffmann&Campe er­schie­ne­ne Clau­di­us-Bio­gra­phie der Köl­ner Ger­ma­nis­tin Dr. An­ne­len Kra­ne­fuss: „Ori­gi­nell und un­ver­wech­sel­bar“ – üb­ri­gens die ers­te Bio­gra­phie seit über sieb­zig Jah­ren, die sich die­ses Man­nes (der als Jour­na­list, als Dich­ter, als hom­me de let­t­res und als Re­dak­teur des „Wands­be­cker Bo­then“ Li­te­ra­tur­ge­schich­te ge­schrie­ben hat) wie­der um­fas­send an­nimmt. Gün­ter Nawe un­ter­hielt sich mit der Au­torin über den Dich­ter Mat­thi­as Clau­di­us, des­sen wis­sen­schaft­li­che Er­for­schung noch längst nicht am Ende sei.

Glarean Ma­ga­zin: Frau Kra­ne­fuss, es gibt das be­rühm­te Dik­tum Goe­thes über die Haupt­auf­ga­be ei­ner Bio­gra­phie. War es auch für Sie Mass­stab ih­rer Arbeit?

An­ne­len Kra­ne­fuss: Ja. „Den Men­schen in sei­nen Zeit­ver­hält­nis­sen dar­zu­stel­len“ – das ist in der äl­te­ren Clau­di­us-Bio­gra­phik oft ver­nach­läs­sigt wor­den. Da­mit hat man we­sent­li­che Aspek­te sei­nes Schrei­bens und Le­bens aus­ge­blen­det. Die his­to­ri­schen Be­din­gun­gen (also auch die so­zia­len Be­son­der­hei­ten des je­wei­li­gen Le­bens­raums) wa­ren nicht nur für sein Le­ben be­stim­mend, Clau­di­us hat auch als Li­te­rat, als hom­me des let­t­res, wie er sich nann­te, auf das Zeit­ge­sche­hen re­agiert. Er hat ja als Jour­na­list an­ge­fan­gen und auch nach dem Ende sei­ner Zei­tungs­ar­beit in sei­nen Tex­ten im­mer wie­der auf Zeit­er­eig­nis­se und kul­tu­rel­le De­bat­ten re­agiert, sehr oft in­di­rekt, so dass es für die Nach­welt nicht ohne Wei­te­res er­kenn­bar ist. Er hat al­ler­dings auch als Jour­na­list ver­sucht, die Di­men­sio­nen von Zeit und Zeit­lo­sig­keit in Be­zie­hung zu set­zen und sei­nen Le­sern zu ver­mit­teln, dass es noch et­was an­de­res gibt als die Tagesaktualität.

Klischeebild des frommen Idyllikers

GM: Seit der letz­ten grös­se­ren Clau­di­us-Bio­gra­phie sind rund 70 Jah­re ver­gan­gen. Wo­her das Des­in­ter­es­se der Ger­ma­nis­tik an die­sem „ori­gi­nel­len und un­ver­wech­sel­ba­ren“ Dichter?

Matthias Claudius - Glarean Magazin
„Meis­ter der Spra­che und der Form“: Mat­thi­as Claudius

AK: Das Des­in­ter­es­se ist nicht so gross, wie es scheint: In den letz­ten Jahr­zehn­ten hat sich eine Rei­he von Ger­ma­nis­ten im­mer wie­der in­ten­siv mit dem Werk von Mat­thi­as Clau­di­us be­fasst. Zu­ge­ge­ben: das ist nur eine Hand­voll ge­mes­sen an der Fül­le von po­pu­lä­ren und oft be­tu­li­chen Clau­di­us-Dar­stel­lun­gen und im Ver­gleich zu den kaum noch zu über­se­hen­den For­schun­gen über an­de­re Au­toren, etwa Goe­the oder Kaf­ka. Hier geht es Clau­di­us nicht an­ders als an­de­ren „klei­ne­ren Poe­ten“ der Li­te­ra­tur­ge­schich­te. Es in­ter­es­sie­ren sich für ihn aber auch an­de­re Dis­zi­pli­nen. Es gibt aus­ge­zeich­ne­te theo­lo­gi­sche Ar­bei­ten über ihn; er hat ei­nen Platz in der Ge­schich­te von Theo­lo­gie und Fröm­mig­keit – das heisst, man kann sich ihm im Grun­de nur fä­cher­über­grei­fend an­nä­hern. Was in der For­schung bis auf we­ni­ge Aus­nah­men bis­her zu kurz kam, ist ein se­riö­ser bio­gra­phi­scher Zu­gang, der über die äl­te­ren er­bau­li­chen Schrif­ten hin­aus­geht. Bio­gra­phien gal­ten in der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft ja lan­ge als un­se­ri­ös. Mög­li­cher­wei­se stand im Fall von Clau­di­us auch das über­lie­fer­te Kli­schee­bild des from­men Idyl­li­kers und Fa­mi­li­en­va­ters ei­nem grös­se­ren In­ter­es­se im Wege.

Meister der Sprache und der kleinen Form

GM: Was hat Sie letzt­lich be­wo­gen, sich die­ses Au­tors anzunehmen?

AK: Clau­di­us hat mich seit mei­nem Stu­di­um im­mer wie­der be­glei­tet und be­schäf­tigt. In sei­nen ge­lun­ge­nen Stü­cken (da­ne­ben gibt es durch­aus auch Schwä­che­res) ist er ei­ner der gros­sen Meis­ter un­se­rer Spra­che und der klei­nen Form. Mich hat auch der da­hin­ter zu spü­ren­de Mensch an­ge­spro­chen, das La­ko­ni­sche, sei­ne Nüch­tern­heit, die gleich­zei­ti­ge Herz­lich­keit und Em­pa­thie, die Ver­bin­dung von Hu­mor und Tief­gang, sei­ne Mit­mensch­lich­keit und Welt­be­ja­hung ohne jede Ver­harm­lo­sung. Er hat un­se­re Hilf­lo­sig­keit an­ge­sichts des To­des er­fah­ren und dar­ge­stellt. Und es hat mich ge­reizt, sei­ner „Mi­schung von Schön­geis­te­rei und Re­li­gi­on“, so be­schreibt er die „Idio­syn­kra­sie des Bo­ten“, nach­zu­ge­hen. Das ist nicht zu ver­wech­seln mit der Vor­stel­lung von der äs­the­ti­schen Au­to­no­mie des Kunst­werks, wie sie die Klas­si­ker zur glei­chen Zeit ent­wi­ckel­ten. Clau­di­us be­harrt auf dem Vor­rang der Rea­li­tät vor al­ler Kunst, was viel­leicht erst heu­te, nach dem Ende des Zeit­al­ters der Kunst­re­li­gi­on, wie­der als künst­le­ri­sche Mög­lich­keit neu ge­se­hen wer­den kann.

GM: An ei­ner Stel­le schrei­ben Sie, dass in der „Ver­flech­tung mit sei­nem Zeit­al­ter … Clau­di­us’ Ei­gen­art sicht­bar“ wird. Wel­ches war die „Ei­gen­art“ von Mat­thi­as Claudius?

AK: Ich habe sie u.a. mit dem Be­griffs­paar „Ei­gen­sinn und Ge­sel­lig­keit“ zu fas­sen ge­sucht. Er war we­der im Le­ben noch im Schrei­ben der iso­lier­te Aus­sen­sei­ter, als den ihn die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft lan­ge ge­führt hat, er hat­te Freun­de, war gut ver­netzt, aber er hat auch – im Dia­log mit den Zeit­ge­nos­sen – im­mer eine ei­ge­ne Po­si­ti­on zu be­haup­ten ge­sucht und dem Zeit­geist auch wi­der­spro­chen. Das wird deut­lich, wenn man die zwei­te Hälf­te des 18. Jahr­hun­derts nicht nur als Goe­the­zeit be­trach­tet, son­dern den je­weils lo­ka­len Be­son­der­hei­ten nachgeht.

Claudius-Texte sind nochmals genauer zu lesen

GM: Sie ha­ben in die­sem Buch ei­ner­seits mit Le­gen­den auf­ge­räumt, an­de­rer­seits von „Leer­stel­len“ in der Clau­di­us-Bio­gra­phie ge­spro­chen. Ist die For­schung über Clau­di­us noch nicht am Ende?

Deckblatt des
Deck­blatt des „Wands­be­cker Bote“ in der Aus­ga­be 1857 (Go­tha)

AK: Mit Si­cher­heit nicht. Es lässt sich be­stimmt noch eine Men­ge ent­de­cken. Ei­ner­seits ganz po­si­ti­vis­tisch fak­ten­be­zo­gen. Ich den­ke, dass mit der wis­sen­schaft­li­chen Edi­ti­on der Brie­fe von und an Mat­thi­as Clau­di­us, an der un­ter der Lei­tung von Pro­fes­sor Jörg-Ul­rich Fech­ner in Bo­chum ge­ar­bei­tet wird, noch das eine oder an­de­re ans Licht kom­men dürf­te, man­ches wird mög­li­cher­wei­se auch in an­de­rem Licht er­schei­nen. Ich muss­te mich noch weit­ge­hend mit der un­zu­läng­li­chen Brief­aus­ga­be von 1938 be­hel­fen. An­de­rer­seits geht es oh­ne­hin nicht in ers­ter Li­nie dar­um, Lü­cken in der bio­gra­phi­schen Über­lie­fe­rung zu schlies­sen, man­che „weis­se Fle­cken“ wer­den blei­ben. Viel­mehr sind die Clau­di­us-Tex­te selbst im­mer noch ein­mal ge­nau zu le­sen, ge­nau­er zu ent­zif­fern und im Kon­text der Zeit zu deu­ten. Das habe ich ver­sucht, aber da­mit kommt man nicht so schnell ans Ende. Das Gen­re Bio­gra­phie eig­net sich auch nicht als Con­tai­ner für alle For­schungs­fra­gen und -er­geb­nis­se. Schliess­lich soll­te mein Buch nicht all­zu dick wer­den. Und dann wird auch je­der For­scher, jede Epo­che wie­der an­de­re Fra­gen an den Au­tor stel­len und ei­nen neu­en Zu­gang finden.

GM: Mit der Aus­ga­be der „Sämt­li­chen Wer­ke des Wands­be­cker Bo­then“ hat Mat­thi­as Clau­di­us ein ein­zig­ar­ti­ges Werk ge­schrie­ben. Wie ist die­ses Werk zu klas­si­fi­zie­ren, wo hat es sei­nen Platz in der Literaturgeschichte?

AK: Ich den­ke, das müss­te aus mei­nen bis­he­ri­gen Ant­wor­ten schon hervorgehen.

Sokrates als philosophischer Ausgangspunkt

GM: In Zu­sam­men­hang mit Clau­di­us ist auch ein­mal von ei­nem „so­kra­ti­schen Schrift­stel­ler“ die Rede. Ist das eine wei­te­re der vie­len Fa­cet­ten, die die­se Au­tor hat?

AK: Das 18. Jahr­hun­dert ist das „so­kra­ti­sche Jahr­hun­dert“ ge­nannt wor­den. Die kirch­li­che Or­tho­do­xie ver­damm­te So­kra­tes als Hei­den und sprach ihm jede Tu­gend ab, für die Auf­klä­rer war er eine Sym­bol­fi­gur im Kampf um To­le­ranz. In die­sem Sinn er­greift auch Clau­di­us Par­tei für So­kra­tes. Der Phi­lo­soph mit sei­nem „Ich weiss, dass ich nichts weiss“ war auch für ihn ein Ge­währs­mann in sei­ner Wen­dung ge­gen Pe­dan­te­rie und abs­trak­te Ge­lehr­sam­keit. Sei­ne Ver­eh­rung geht aber dar­über hin­aus. Der So­kra­tes, der in Athen vor Ge­richt stand und zum Tode ver­ur­teilt wur­de, war ihm ein Vor­bild in­ne­rer, re­li­gi­ös ver­stan­de­ner Freiheit.

GM: Was kann Mat­thi­as Clau­di­us dem Le­ser von heu­te sa­gen? Kann er dem Le­ser von heu­te über­haupt noch et­was sagen?

Der Claudius-Gedenkstein im
Der Clau­di­us-Ge­denk­stein im „Wands­be­ker Gehölz“

AK: In vie­lem sind uns Clau­di­us‘ po­li­ti­sche An­sich­ten, sei­ne Le­bens­form heu­te fremd, ge­ra­de in dem, was z.B. das Bür­ger­tum des 19. Jahr­hun­derts an ihm schätz­te. Wir kön­nen die re­stau­ra­ti­ven Ten­den­zen sei­nes Spät­werks nicht mehr nach­voll­zie­hen. Er ist we­der der Dich­ter zeit­lo­ser Wahr­hei­ten noch lässt er sich krampf­haft ak­tua­li­sie­ren. Das ist aber auch gar nicht nö­tig – es gibt vie­le Züge, in de­nen wir uns zu die­sem Men­schen und Schrift­stel­ler in Be­zie­hung set­zen, uns ihm an­nä­hern kön­nen, ohne uns iden­ti­fi­zie­ren zu müs­sen. Er spricht auf an­rüh­ren­de und ein­fa­che Wei­se von den ele­men­ta­ren Ge­ge­ben­hei­ten des Men­schen­le­bens, von den Schön­hei­ten der Na­tur, von der Ver­gäng­lich­keit und den un­ge­lös­ten Fra­gen des Da­seins und kann uns er­mu­ti­gen, das zu su­chen, was auch ihm wich­tig war: „et­was Ei­ge­nes“, das standhält.

Vermittlung der Zeit und der Person des Dichters

GM: Ei­ni­ge we­ni­ge Men­schen ken­nen bes­ten­falls die ers­te Stro­phe des be­rühm­ten „Der Mond ist auf­ge­gan­gen…“ und viel­leicht noch den Schluss­vers. Oder aber den Vers, von dem kaum ei­ner weiss, dass „’s ist lei­der Krieg – und ich be­geh­re / Nicht schuld dar­an zu sein!“ von Clau­di­us ist. Soll­te die­ser Dich­ter nicht wie­der im Deutsch­un­ter­richt von heu­te sei­nen Platz finden?

AK: Ich weiss nicht, ob er wirk­lich so ganz aus dem Deutsch­un­ter­richt ver­schwun­den ist. Das „Kriegs­lied“ kommt, wie ich höre, durch­aus vor. Und ge­ra­de hat mir je­mand von ei­ner Schul­ver­an­stal­tung er­zählt, bei der Clau­di­us‘ Ge­dicht „Die Stern­se­he­rin Lise“ re­zi­tiert wur­de. Wich­tig fin­de ich, dass die Schu­le bei­des ver­mit­telt: die wun­der­ba­ren Tex­te und das Ge­fühl für die Zeit und die Per­son des Dichters. ♦

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma auch über An­ne­len Kra­ne­fuss: Mat­thi­as Clau­di­us (Bio­gra­phie)

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