Erik Satie: L´œuvre pour piano (Aldo Ciccolini)

Alle Jahre wieder“ und nie langweilig – oder doch?

von Mi­cha­el Magercord

Es ist wie­der ein­mal so­weit: Alle un­ge­fähr drei Jah­re wie­der legt EMI-Clas­sics die schon vor bald dreis­sig Jah­re erst­mals kom­plett ein­ge­spiel­ten Wer­ke für Kla­vier von Erik Sa­tie vor, je­des Mal mit ei­nem neu­en Co­ver-De­sign. Bloss al­ter Wein in neu­en Schläu­chen also? Si­cher nicht, denn die­se Ein­spie­lung durch den Pia­nis­ten Aldo Cic­co­li­ni ist ein Schatz in der Tru­he von EMI. Die­se fünf CDs brin­gen sechs Stun­den un­un­ter­bro­che­nen Hör­ge­nuss – und ein Ge­nuss ist es im­mer wie­der, die Wer­ke Sa­ties zu hö­ren. Es sind Klein­ode der Kla­vier­mu­sik, das längs­te dau­ert ex­akt sechs Mi­nu­ten, das kür­zes­te ge­ra­de ein­mal 14 Se­kun­den, und ins­ge­samt kommt die kom­plet­te Ein­spie­lung auf 212 Einzel-Takes.

Meisterschaft der Kürze und Konzentration

Satie: L'oeuvre pour piano - Aldo Ciccolini (EMI Classics)
Sa­tie: L’oeuvre pour pia­no – Aldo Cic­co­li­ni (EMI Classics)

Schon das ers­te Take „Al­le­gro“, das auch die ers­te be­kann­te Kom­po­si­ti­on von Sa­tie ist, zeigt sei­ne gan­ze Meis­ter­schaft der Kür­ze und Kon­zen­tra­ti­on. Neun Tak­te, die der Kom­po­nist nach zwan­zig Se­kun­den als kom­plet­tes Stück be­schliesst. Das Stück – oder soll­te man sa­gen: Werk – scheint mit sei­nem Flies­sen gar nicht zu en­den und en­det eben doch. Sa­tie soll zur Auf­recht­erhal­tung die­ses Ein­drucks noch eine Über­brü­ckungs­pas­sa­ge von ein paar Tak­ten ge­stri­chen ha­ben, die ihm das Stück zu arg in die Län­ge ge­zo­gen hät­te, ohne wirk­lich et­was hin­zu­zu­fü­gen. Eine mu­si­ka­li­sche Post­kar­te von der At­lan­tik­küs­te oder poe­ti­scher: ein Hai­ku. Auch wenn Sa­tie in der Fol­ge sei­ner Kom­po­si­ti­ons­tä­tig­keit vie­le Pha­sen und Pe­ri­oden durch­ge­macht hat, die vom Wal­zer bis zur stren­gen klas­si­schen Form rei­chen, so blieb die Kür­ze und Kon­zen­tra­ti­on sei­ne Me­tho­de, und der Hö­rer dankt ihm für die­sen klei­nen aber fei­nen Ge­nuss bis heute.

Der schräge Vogel Erik Satie

Erik Satie im Portrait-Gemälde von Suzanne Valadon
Erik Sa­tie im Por­trait-Ge­mäl­de von Su­zan­ne Valadon

Es ist na­tür­lich auch im­mer ein Ge­nuss, sich über die Wer­ke und die oft ab­stru­sen Ti­tel­be­zeich­nun­gen den Kom­po­nis­ten als Men­schen aus­zu­ma­len. Wer sei­ne Stü­cke etwa „Gur­ken­em­bry­os“, „träu­men­der Fisch“ oder „bü­ro­kra­ti­sche So­na­te“ nennt, muss je­mand ge­we­sen sein, der sich als Mensch so ernst nahm, dass er sich nicht ernst nahm. Ein wahr­lich schrä­ger Vo­gel soll es auch ge­we­sen sein, der dem jun­gen Erik Sa­tie das Da­sein als schrä­ger Vo­gel schmack­haft ge­macht hat­te. Sein On­kel näm­lich, der sich auch noch „On­kel See­vo­gel“ nann­te, aber eher als das schwar­ze Schaf der Fa­mi­lie galt, hat­te sich kaum um die fa­mi­liä­re Ree­de­rei ge­küm­mert als viel­mehr um schlüpf­ri­ge Thea­ter-Re­vues – und sei­nen Nef­fen in die­se Welt ein­ge­führt. Mit die­ser Er­fah­rung aus den jun­gen Jah­ren hat­te auch der noch ju­gend­li­che Pia­nist und Kom­po­nist Erik Sa­tie spä­ter kein Pro­blem, sich um­ge­hend in die Sze­ne um den Pa­ri­ser Mont­mart­re hei­misch zu füh­len und doch ge­nau zu ver­ste­hen, was ei­gent­lich ge­spielt wird, heisst es in ei­ner Bio­gra­phie, denn sein Sinn für das Ab­sur­de des Le­bens sei dank des On­kels schon früh ge­schärft ge­we­sen. Der ge­nuss­voll die­se selt­sam be­tit­tel­ten Wer­ke Hö­ren­de je­den­falls ist dem On­kel da­für noch im­mer dankbar…

Ciccolini als richtungsweisender Interpet

„Ge­nuss­vol­le Lan­ge­wei­le“: Erik Sa­ties Skiz­ze für die Or­ches­trie­rung ei­nes sei­ner „Gnos­si­en­nes“

Es ist wei­ter na­tür­lich auch ein Ge­nuss, sich auf die ganz un­ter­schied­li­chen Aus­füh­rung die­ser Stü­cke zu kon­zen­trie­ren, wo­bei die Ein­spie­lung von Aldo Cic­co­li­ni als eine der rich­tungs­wei­sen­den In­ter­pre­ta­tio­nen gel­ten darf. Sa­tie wur­de bis in den Be­ginn der 80er Jah­re kaum ge­spielt, die gros­sen So­lis­ten mie­den die­se so ernst­frei da­her kom­men­de erns­te Mu­sik. Der fran­zö­si­che Pia­nist mit süd­ita­lie­ni­schen Wur­zeln be­sass aber viel­leicht ge­nug nea­po­litia­ni­sche Chup­ze, um sich gleich an eine Kom­plett­ein­spie­lung zu wa­gen. Erst in den letz­ten bei­den Jahr­zehn­ten wur­den ei­ni­ge Stü­cke, al­len vor­an die Gym­no­pe­dies und Gnos­si­en­nes, oft auf­ge­nom­men, und al­les scheint nun mög­lich, von ele­gisch ro­man­tisch, wie etwa vom jun­gen eng­li­schen Pia­nis­ten Ro­nan O’Hara, oder steif und kalt. Schon der Ver­gleich der Län­gen er­ge­ben in­ter­es­san­te Auf­schlüs­se über die In­ter­pre­tier­bar­keit die­ser Mu­sik. Wo zum Bei­spiel John White, der spielt, als kom­me die Mu­sik aus ei­nem be­to­nungs­lo­sen Au­to­ma­ten – was Sa­tie si­cher auch ge­fal­len hät­te –, die „Träu­me­rei des Ar­men“ in 2:43 Mi­nu­ten ab­sol­viert, be­nö­tigt Aldo Cic­co­li­ni für das­sel­be Stück in sei­ner, die je­wei­li­gen Klang­stim­mun­gen auf­neh­men­den Art der In­ter­pre­ta­ti­on ge­ra­de ein­mal eine Minute.

Geliebte Eintönigkeiten von Erik Satie

Diese CD-Box Einspielung ist ein Genuss in vielerlei Hinsicht, und selbst nach sechs Stunden klingen die kurzen, oftmals im besten Sinne eintönigen Satie-Werke beim Hörer noch lange nach. Langeweile sollte ja eigentlich keine Kategorie der Kunstkritik sein, hier aber sei sie einmal erlaubt
Die­se CD-Box mit dem „œu­vre pour pia­no“ von Erik Sa­tie ist ein Ge­nuss in vie­ler­lei Hin­sicht, und selbst nach sechs Stun­den klin­gen die kur­zen, oft­mals im bes­ten Sin­ne ein­tö­ni­gen Sa­tie-Wer­ke beim Hö­rer noch lan­ge nach. Lan­ge­wei­le soll­te ja ei­gent­lich kei­ne Ka­te­go­rie der Kunst­kri­tik sein, hier aber sei sie ein­mal erlaubt

Die­se CD-Box Ein­spie­lung ist also ein Ge­nuss in vie­ler­lei Hin­sicht, und selbst nach sechs Stun­den klin­gen die kur­zen, oft­mals im bes­ten Sin­ne ein­tö­ni­gen Wer­ke beim Hö­rer noch lan­ge nach. Lan­ge­wei­le soll­te ja ei­gent­lich kei­ne Ka­te­go­rie der Kunst­kri­tik sein, hier aber sei sie ein­mal er­laubt, denn es soll der So­zio­lo­ge und Mu­sik­theo­re­ti­ker Theo­dor Ador­no ge­we­sen sein, der Sa­ties Mu­sik ab­schät­zig mit der Be­griff „Phi­lo­so­phi­sche Lan­ge­wei­le“ be­leg­te. Der ge­nuss­süch­ti­ge und dank­ba­re Hö­rer fasst die­se Be­zeich­nung sei­ner ge­lieb­ten Ein­tö­nig­kei­ten aus der Fe­der von Erik Sa­tie in der In­ter­pre­ta­ti­on von Aldo Cic­co­li­ni al­ler­dings als Lob auf – denn ist nicht die­se Art der Lan­ge­wei­le die viel­leicht men­schen­wür­digs­te al­ler mensch­lich-geis­ti­gen Regungen? ♦

Erik Sa­tie, L´œuvre pour pia­no, Aldo Cic­co­li­ni (Kla­vier), 5 CD-Box, EMI Clas­sics 50999 648361 2 6

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma „Eric Sa­tie“ auch über
Pinda­kaas-Sa­xo­phon: Voyage

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