Friedrich Gernsheim: Klavierquintette (CD)

Anmutig lächelnd wie ein Wiener Mädchenauge

von Dr. Mar­kus Gärtner

Durch die Plas­tik und Klar­heit sei­ner Ton­schöp­fun­gen und die ihnen inne­woh­nende Poe­sie und Fri­sche erscheint Gerns­heim unter den Com­po­nis­ten der Gegen­wart beson­ders befä­higt, bei wei­te­rer künst­le­ri­scher Ent­wick­lung beru­fen zu sein, im edels­ten Sinne des Wor­tes zu vol­ler Popu­la­ri­tät und Aner­ken­nung sei­ner Werke zu gelangen.”
Der fromme Wunsch, den das Men­del-Reiss­mann­sche “Musi­ka­li­sche Con­ver­sa­ti­ons-Lexi­con” hier for­mu­liert, ist nicht in Erfül­lung gegan­gen. Zu Leb­zei­ten geach­tet und geehrt, begann der Pia­nist und Kom­po­nist Fried­rich Gerns­heim schon zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts, aus den Köp­fen der musik­in­ter­es­sier­ten Öffent­lich­keit zu verschwinden.

Friedrich Gernsheim - Klavier-Quintett Nr. 1 op. 35 - Klavier-Quintett Nr. 2 op. 63Doch das Inter­esse der Ton­trä­ger­indus­trie, wel­che mitt­ler­weile auch die angeb­lich zweite und dritte Reihe deut­scher Kom­po­nis­ten hin­ter und neben den gros­sen Namen auf Ver­kaufs­po­ten­zial prüft – und dabei nolens volens mit­hilft, eine Musik­ge­schichte zu ent­wer­fen, die sich auch für die Neben­arme des gros­sen Stro­mes inter­es­siert –, kommt Gerns­heim, bei­nahe ein Jahr­hun­dert nach sei­nem Tod, zugute: Es lässt das Bild eines vor allem kam­mer­mu­si­ka­lisch wir­ken­den Ton­künst­lers ent­ste­hen, der in Abhän­gig­keit von Johan­nes Brahms der vor­wärts­trei­ben­den Ent­wick­lung der “Zukunfts­mu­sik” um Liszt und Wag­ner nicht fol­gen wollte.

Mit dem Etikett “formalistisch-akademisch” versehen

Friedrich Gernsheim (1839–1916)
Fried­rich Gerns­heim (1839–1916)

Gerns­heim gehört damit zum Block der­je­ni­gen Kom­po­nis­ten, die in der Geschichts­schrei­bung im All­ge­mei­nen mit den Eti­ket­ten “Kon­ser­va­ti­ver”, “Aka­de­mi­ker” oder auch “For­ma­list” gekenn­zeich­net wer­den. Gleich­zei­tig zeigt er sich als ein ganz bestimm­ter Künst­ler­ty­pus, wie ihn die zweite Hälfte des 19. Jahr­hun­dert her­vor­ge­bracht hat: aka­de­misch aus­ge­bil­det, inter­na­tio­nal wir­kend und doch bereits von Zeit­ge­nos­sen als rück­wärts­ge­wandt ein­ge­stuft. Ein Spe­zi­fi­kum die­ser Kom­po­nis­ten, zu denen sich, ohne immer alle drei Kri­te­rien zu erfül­len, Hein­rich von Her­zo­gen­berg, Robert Fuchs, Julius Roent­gen oder Her­mann Goetz rech­nen lies­sen, ist immer wie­der die Ori­en­tie­rung an der Instru­men­tal­mu­sik, und zwar im Beson­de­ren an der Kam­mer­mu­sik inklu­sive deren Ästhe­tik des “Rei­nen” – ein Genre, wel­ches eben schon durch die kleine Beset­zung allem mark­schreie­ri­schen Bom­bast ent­ge­gen­ge­setzt ist. Neben dem Streich­quar­tett trei­ben auch immer wie­der Beset­zun­gen mit Kla­vier und Strei­chern diese Ton­künst­ler zur Komposition.

“Nicht inno­va­tive, aber unge­küns­telte” Brahms-Nach­folge: Par­ti­tur-Aus­zug von “In memo­riam – Klage-Sang für Streich­or­ches­ter & Orgel” op. 91 von Fried­rich Gernsheim

Nicht innovativ – dafür ungekünstelt

Ent­spre­chend des eige­nen Selbst­ver­ständ­nis­ses – “pro­du­cing recor­dings of the huge amount of top-notch clas­si­cal music that the con­cert halls and major record com­pa­nies are igno­ring” – hat sich das Label “Toc­cata Clas­sics” nun auch um Fried­rich Gerns­heim ver­dient gemacht. Die vor­lie­gende CD mit den bei­den Kla­vier­quin­tet­ten des Kom­po­nis­ten ist geprägt von gros­ser Serio­si­tät, sowohl was die Musik als auch deren Dar­bie­tung anbe­langt. Hier wer­den keine angeb­li­chen “Schätze” geho­ben, die man am liebs­ten gleich wie­der im Meer des Ver­ges­sens ver­sen­ken möchte. Nein, Gerns­heims Musik ist für ihre Zeit zwar kei­nes­wegs hoch­in­no­va­tiv, klingt aber dafür unge­küns­telt und bie­tet The­men, die sowohl melo­disch als auch mit Blick auf deren Ver­ar­bei­tung gut erfun­den sind. Das unter­schei­det ihn von vie­len sei­ner “kon­ser­va­ti­ven” Kol­le­gen, und auch Brahms arbei­tet ja oft­mals mit eher zähen the­ma­ti­schen Grundgedanken.

Art Vio String Quartet - Glarean Magazin
“Vitale und fein­füh­lige Inter­pre­ta­tion”: Das Art Vio String Quartet

Der Kopf­satz des ers­ten Quin­tetts von 1875/76 beginnt gleich mit einem zwar instru­men­tal gedach­ten, aber gleich­zei­tig gut memo­rier­ba­ren ers­ten The­men­block. Auch das Scherzo weiss zu fes­seln und mit dem Hörer tat­säch­lich seine Scherze zu trei­ben, indem es die­sen, was das Ende des Sat­zes betrifft, mehr­fach an der Nase herumführt.

Vitale und gleichzeitig feinfühlige Interpretation

Das zweite Quin­tett von 1896 zeigt sich etwas zuge­knöpf­ter, erscheint ins­ge­samt zurück­ge­nom­me­ner und im Haupt­thema des ers­ten Sat­zes auch weni­ger ein­gän­gig. Der Akzent liegt hier mehr auf dem fol­gen­den Sei­ten­satz, der sich tän­ze­risch-char­mant als “eine echte Melo­die aus dem Hei­mat­land der Kam­mer­mu­sik” zeigt, wie Anton Ursprung in sei­ner Bespre­chung der Erst­aus­gabe der Par­ti­tur for­mu­lierte, “anmut­hig lächelnd wie ein Wie­ner Mäd­chen­auge, noch dazu auf das Reiz­vollste instru­men­tiert und aus­neh­mend lieb­lich von dem düs­te­ren, lei­den­schaft­li­chen Hin­ter­grunde des ers­ten Haupt­mo­tivs abge­ho­ben” (Musi­ka­li­sches Wochen­blatt 29 [1898], S. 617-619, hier S. 619). Gra­ziös ist aller­dings auch das Scherzo, wel­ches mit sei­nen drei­ein­halb Minu­ten mehr Inter­mezzo- denn Satz­cha­rak­ter aufweist.

Die Aufnahme kann nicht nur durch die gleichzeitig vitale wie feinfühlige Interpretation überzeugen, sondern macht zudem Lust darauf, weitere Werke Friedrich Gernsheims – z. B. seine Symphonien – kennenzulernen. Auch das Zusammenspiel des Art Vio Quartetts mit dem Pianisten Edouard Oganessian kann nur gelobt werden.
Die Auf­nahme kann nicht nur durch die gleich­zei­tig vitale wie fein­füh­lige Inter­pre­ta­tion über­zeu­gen, son­dern macht zudem Lust dar­auf, wei­tere Werke Fried­rich Gerns­heims – z. B. seine Sym­pho­nien – ken­nen­zu­ler­nen. Auch das Zusam­men­spiel des Art Vio Quar­tetts mit dem Pia­nis­ten Edouard Oga­nes­sian kann nur gelobt werden.

Die Auf­nahme kann nicht nur durch die gleich­zei­tig vitale wie fein­füh­lige Inter­pre­ta­tion über­zeu­gen, son­dern macht zudem Lust dar­auf, wei­tere Werke Fried­rich Gerns­heims – z. B. seine Sym­pho­nien – kennenzulernen.
Das Zusam­men­spiel des Art Vio Quar­tetts mit dem Pia­nis­ten Edouard Oga­nes­sian kann nur gelobt wer­den. Fein staf­feln die Musi­ker Laut­stär­ke­un­ter­schiede, ohne auf die grosse Geste zu ver­zich­ten. Das ver­leiht der Musik eine ihr gut zu Gesicht ste­hende kräf­tige Note, die den Hörer posi­tiv an die Hand nimmt, vor­lie­gende Quin­tette genauer ken­nen­zu­ler­nen. Die Auf­nahme kann nicht nur durch die gleich­zei­tig vitale wie fein­füh­lige Inter­pre­ta­tion über­zeu­gen, son­dern macht zudem Lust dar­auf, wei­tere Werke Fried­rich Gerns­heims – z. B. seine Sym­pho­nien – kennenzulernen. ♦

Fried­rich Gerns­heim: Piano Quin­tet No. 1 in D minor, op. 35; Piano Quin­tet No. 2 in B minor, op. 63; Art Vio String Quar­tet; Edouard Oga­nes­sian, piano; Toc­cata Classics

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Kam­mer­mu­sik mit Kla­vier” auch über
W. A. Mozart: Gran­des Oeu­vres à quatre mains (Kla­vier vier­hän­dig – CD)

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