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Anmutig lächelnd wie ein Wiener Mädchenauge
von Markus Gärtner
“Durch die Plastik und Klarheit seiner Tonschöpfungen und die ihnen innewohnende Poesie und Frische erscheint Gernsheim unter den Componisten der Gegenwart besonders befähigt, bei weiterer künstlerischer Entwicklung berufen zu sein, im edelsten Sinne des Wortes zu voller Popularität und Anerkennung seiner Werke zu gelangen.”
Der fromme Wunsch, den das Mendel-Reissmannsche “Musikalische Conversations-Lexicon” hier formuliert, ist nicht in Erfüllung gegangen. Zu Lebzeiten geachtet und geehrt, begann der Pianist und Komponist Friedrich Gernsheim schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aus den Köpfen der musikinteressierten Öffentlichkeit zu verschwinden.
Doch das Interesse der Tonträgerindustrie, welche mittlerweile auch die angeblich zweite und dritte Reihe deutscher Komponisten hinter und neben den grossen Namen auf Verkaufspotenzial prüft – und dabei nolens volens mithilft, eine Musikgeschichte zu entwerfen, die sich auch für die Nebenarme des grossen Stromes interessiert –, kommt Gernsheim, beinahe ein Jahrhundert nach seinem Tod, zugute: Es lässt das Bild eines vor allem kammermusikalisch wirkenden Tonkünstlers entstehen, der in Abhängigkeit von Johannes Brahms der vorwärtstreibenden Entwicklung der “Zukunftsmusik” um Liszt und Wagner nicht folgen wollte.
Mit dem Etikett “formalistisch-akademisch” versehen
Gernsheim gehört damit zum Block derjenigen Komponisten, die in der Geschichtsschreibung im Allgemeinen mit den Etiketten “Konservativer”, “Akademiker” oder auch “Formalist” gekennzeichnet werden. Gleichzeitig zeigt er sich als ein ganz bestimmter Künstlertypus, wie ihn die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert hervorgebracht hat: akademisch ausgebildet, international wirkend und doch bereits von Zeitgenossen als rückwärtsgewandt eingestuft. Ein Spezifikum dieser Komponisten, zu denen sich, ohne immer alle drei Kriterien zu erfüllen, Heinrich von Herzogenberg, Robert Fuchs, Julius Roentgen oder Hermann Goetz rechnen liessen, ist immer wieder die Orientierung an der Instrumentalmusik, und zwar im Besonderen an der Kammermusik inklusive deren Ästhetik des “Reinen” – ein Genre, welches eben schon durch die kleine Besetzung allem markschreierischen Bombast entgegengesetzt ist. Neben dem Streichquartett treiben auch immer wieder Besetzungen mit Klavier und Streichern diese Tonkünstler zur Komposition.

Nicht innovativ – dafür ungekünstelt
Entsprechend des eigenen Selbstverständnisses – “producing recordings of the huge amount of top-notch classical music that the concert halls and major record companies are ignoring” – hat sich das Label “Toccata Classics” nun auch um Friedrich Gernsheim verdient gemacht. Die vorliegende CD mit den beiden Klavierquintetten des Komponisten ist geprägt von grosser Seriosität, sowohl was die Musik als auch deren Darbietung anbelangt. Hier werden keine angeblichen “Schätze” gehoben, die man am liebsten gleich wieder im Meer des Vergessens versenken möchte. Nein, Gernsheims Musik ist für ihre Zeit zwar keineswegs hochinnovativ, klingt aber dafür ungekünstelt und bietet Themen, die sowohl melodisch als auch mit Blick auf deren Verarbeitung gut erfunden sind. Das unterscheidet ihn von vielen seiner “konservativen” Kollegen, und auch Brahms arbeitet ja oftmals mit eher zähen thematischen Grundgedanken.

Der Kopfsatz des ersten Quintetts von 1875/76 beginnt gleich mit einem zwar instrumental gedachten, aber gleichzeitig gut memorierbaren ersten Themenblock. Auch das Scherzo weiss zu fesseln und mit dem Hörer tatsächlich seine Scherze zu treiben, indem es diesen, was das Ende des Satzes betrifft, mehrfach an der Nase herumführt.
Vitale und gleichzeitig feinfühlige Interpretation
Das zweite Quintett von 1896 zeigt sich etwas zugeknöpfter, erscheint insgesamt zurückgenommener und im Hauptthema des ersten Satzes auch weniger eingängig. Der Akzent liegt hier mehr auf dem folgenden Seitensatz, der sich tänzerisch-charmant als “eine echte Melodie aus dem Heimatland der Kammermusik” zeigt, wie Anton Ursprung in seiner Besprechung der Erstausgabe der Partitur formulierte, “anmuthig lächelnd wie ein Wiener Mädchenauge, noch dazu auf das Reizvollste instrumentiert und ausnehmend lieblich von dem düsteren, leidenschaftlichen Hintergrunde des ersten Hauptmotivs abgehoben” (Musikalisches Wochenblatt 29 [1898], S. 617-619, hier S. 619). Graziös ist allerdings auch das Scherzo, welches mit seinen dreieinhalb Minuten mehr Intermezzo- denn Satzcharakter aufweist.

Die Aufnahme kann nicht nur durch die gleichzeitig vitale wie feinfühlige Interpretation überzeugen, sondern macht zudem Lust darauf, weitere Werke Friedrich Gernsheims – z. B. seine Symphonien – kennenzulernen.
Das Zusammenspiel des Art Vio Quartetts mit dem Pianisten Edouard Oganessian kann nur gelobt werden. Fein staffeln die Musiker Lautstärkeunterschiede, ohne auf die grosse Geste zu verzichten. Das verleiht der Musik eine ihr gut zu Gesicht stehende kräftige Note, die den Hörer positiv an die Hand nimmt, vorliegende Quintette genauer kennenzulernen. Die Aufnahme kann nicht nur durch die gleichzeitig vitale wie feinfühlige Interpretation überzeugen, sondern macht zudem Lust darauf, weitere Werke Friedrich Gernsheims – z. B. seine Symphonien – kennenzulernen. ♦
Friedrich Gernsheim: Piano Quintet No. 1 in D minor, op. 35; Piano Quintet No. 2 in B minor, op. 63; Art Vio String Quartet; Edouard Oganessian, piano; Toccata Classics
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema “Kammermusik mit Klavier” auch über W. A. Mozart: Grandes Oeuvres à quatre mains (Klavier vierhändig – CD)