Isabelle Stamm: Schonzeit (Roman)

Die Welt begann sich langsamer zu drehen“

von Günter Nawe

Nein, es gibt kei­ne „Schon­zeit“ für die Lie­be und schon gar kei­ne im Le­ben über­haupt. Bis Miru­na Lu­pes­cu, Schwei­ze­rin mit ru­mä­ni­schen Vor­fah­ren, zu die­ser Er­kennt­nis kommt, lebt sie ein­sam und zu­rück­ge­zo­gen, hat le­dig­lich Kon­takt zu ih­rer Schwes­ter. Ab und an schleicht sich ein Lieb­ha­ber nachts bei ihr ein. Dro­gen ver­set­zen sie zwi­schen­durch in eine le­thar­gi­sche Un­wirk­lich­keit. An­sons­ten geht das Le­ben an ihr vor­bei. So gibt es für die jun­ge Frau fast kei­ne Aus­sen­wahr­neh­mung – und nie­mand fin­det Zu­gang zu ih­rem Inneren.

Die jun­ge Schwei­zer Au­torin Isa­bel­le Stamm hat 2008 mit dem Ro­man „Zwil­lings Wel­ten“ auf sich auf­merk­sam ge­macht und be­reits meh­re­re Aus­zeich­nun­gen er­hal­ten. Dass sie die ver­dient hat, be­weist sie nun mit ih­rem zwei­ten Ro­man „Schon­zeit“.

Das Leben in Form von Briefen

Isabelle Stamm: Schonzeit - Roman - Limmat VerlagDas „Le­ben“ oder was auch im­mer kommt zu Miru­na in Form von Brie­fen, die sie aus dem Ru­mä­ni­schen über­set­zen soll. Brie­fe, die sie auf selt­sa­me Wei­se an­rüh­ren und be­schäf­ti­gen, ob­wohl sie we­der Brief­schrei­ber, Ga­bri­el Alex­an­dru, noch Adres­sa­ten kennt. Ha­ben sie doch et­was mit ih­rer ei­ge­nen Ge­schich­te zu tun. Auch sie kam aus Ru­mä­ni­en, ih­rer El­tern sind nach dem Tod ih­res drit­ten Kin­des da­hin zu­rück gekehrt.

So emp­fin­det sie das, was sie über­setzt, auch als ein Stück ei­ge­ner Fa­mi­li­en­ge­schich­te. Die an­de­re, die über­setz­te Fa­mi­li­en­ge­schich­te macht es mög­lich. Bei­de sind bei­na­he spie­gel­bild­lich zu se­hen. Auf je­den Fall möch­te Miru­na den Emp­fän­ger der Brie­fe ken­nen ler­nen. Mit Jo­hann Tscha­nun, dem En­kel des Brief­schrei­bers, hat sie plötz­lich ei­nen (Gesprächs-)Partner. Ih­rer bei­der Le­bens- und Fa­mi­li­en­ge­schich­ten kor­re­spon­die­ren mit­ein­an­der. Und ihre Kennt­nis setzt bei bei­den Er­in­ne­run­gen frei.
So konn­te sich Jo­hann bis­her nicht an sei­ne Mut­ter er­in­nern, die ihn im Al­ter von drei Jah­ren ver­las­sen hat. Ein trau­ma­ti­sches Er­leb­nis. Und Miru­na ist nun auch in der Lage, ihre ei­ge­ne Ge­schich­te zu ak­zep­tie­ren. „…die Welt be­gann sich lang­sa­mer zu dre­hen“, aber „ich konn­te ihr folgen“.

Spannung durch häufige Perspektivwechsel

Span­nung er­zeugt die Au­torin durch häu­fi­ge Per­spek­tiv­wech­sel. Mal le­sen wir Brie­fe, mal Er­zäh­lun­gen und Ge­sprä­che. Und dies al­les in Zeit­sprün­gen – ein kunst­vol­les Er­zähl­ge­flecht. Was für den Le­ser nach und nach of­fen­sicht­lich wird, ver­schwei­gen die Lie­ben­den – und das sind sie mitt­ler­wei­le – vor­ein­an­der: ihre tie­fen Wun­den und Ver­let­zun­gen. So Miru­na, die eben­falls mit ei­nem Trau­ma fer­tig wer­den muss: mit dem Tod ih­res Bruders.

Isabelle Stamm erzählt in ihrem Roman
Isa­bel­le Stamm er­zählt in ih­rem Ro­man „Schon­zeit“ zwei Fa­mi­li­en­ge­schich­ten, die mit­ein­an­der kor­re­spon­die­ren, und eine Be­zie­hungs­ge­schich­te, die sich dar­aus er­gibt. Die Viel­schich­tig­keit des Plots, die Cha­rak­te­ris­tik der Prot­ago­nis­ten und das psy­cho­lo­gi­sche Ein­füh­lungs­ver­mö­gen der Au­torin so­wie sprach­li­ches Fein­ge­fühl ma­chen „Schon­zeit“ zu ei­nem be­mer­kens­wer­ten Buch.

Mit viel psy­cho­lo­gi­schem Ein­füh­lungs­ver­mö­gen schil­dert Isa­bel­le Stamm die See­len­pro­bla­ma­tik, für die es kei­ne Lö­sung zu ge­ben scheint. Es sei denn, es müs­se eine ka­ta­stro­pha­le sein. Und so kommt es – nach dem Miru­na ein wei­te­res und be­son­ders furcht­ba­res Ge­heim­nis bei Jo­hann ent­deckt. Was bis jetzt Schon­zeit war, ist auf­ge­ho­ben. Die Wirk­lich­keit for­dert anderes.Und so führt die scho­nungs­lo­se Kon­fron­ta­ti­on (vor­erst) zur Tren­nung. Miru­na lebt wie­der in ih­rer Iso­la­ti­on – in ih­rem Turm von Ein­sam­keit und Gleich­gül­tig­keit. Wird sie sich dar­aus wie­der be­frei­en kön­nen? Stär­ke wird ge­fragt sein; eine Stär­ke, die aus der Schwä­cher erwächst.
Äus­serst viel­schich­tig ist die­ser Ro­man. Die Cha­rak­te­re der bei­den Prot­ago­nis­ten sind kom­plex. Die Ge­schich­te selbst manch­mal et­was be­müht kon­stru­iert, aber in sich sehr schlüs­sig. Auf je­den Fall ist Isa­bel­le Stamm ein be­mer­kens­wer­ter Ro­man ge­lun­gen. Leseempfehlung! ♦

Isa­bel­le Stamm, Schon­zeit, Ro­man, 220 Sei­ten, Lim­mat Ver­lag Zü­rich, ISBN 978-3-85791-598-7

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… so­wie über den Ro­man von Rolf D. Sa­bel: Der Pompeji-Papyrus

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