Interview mit dem Verleger Egon Ammann

Sei vielfältig wie das Universum“

von Günter Nawe

Der Band „Ge­nie und Wahn­sinn – Schrif­ten zu ei­ner in­tel­lek­tu­el­len Bio­gra­phie“ bil­det den Ab­schluss der gran­dio­sen Werk­aus­ga­be von Fer­nan­do Pes­soa (1888 bis 1935) im Zür­cher Am­mann Ver­lag. Er fasst an­nä­hernd alle Nach­lass­frag­men­te zu­sam­men, die von der gros­sen Schlüs­sel­fi­gur des por­tu­gie­si­schen Mo­der­nis­mus zu The­men wie Ge­nie, Wahn­sinn, De­ge­ne­ra­ti­on oder Psy­cho­pa­tho­lo­gie nie­der­ge­schrie­ben wor­den sind.

Der jun­ge Pes­soa er­weist sich dar­in als ein be­acht­li­cher Ken­ner der geis­ti­gen Strö­mun­gen, die in Eu­ro­pa vor dem Ers­ten Welt­krieg im Um­lauf wa­ren und in der da­ma­li­gen Zeit die in­tel­lek­tu­el­le Auf­merk­sam­keit be­herrsch­ten. Ge­nannt sei­en stell­ver­tre­tend Sieg­mund Freud, Max Nord­au und Ce­sa­re Lom­bro­so. Da­bei ist zu be­rück­sich­ti­gen, dass alle so ent­stan­de­nen Tex­te Früh­schrif­ten sind – aus der Zeit nach der Rück­kehr Pes­s­o­as aus Afrika.

Schöner Abschluss einer hervorragenden Edition

Pessoa - Genie und Wahnsinn - Schriften zu einer intellektuellen Biographie - Ammann VerlagSei viel­fäl­tig wie das Uni­ver­sum“ galt als Le­bens­de­vi­se des Fer­nan­do Pes­soa. Wie sehr er sich dar­an ge­hal­ten hat, zeigt sein Werk, das mit dem „Buch der Un­ru­he“ des kurz­sich­ti­gen Hilfs­buch­hal­ters Ber­nar­do Soares, mit den Bü­chern sei­ner He­te­ro­ny­me Al­ber­to Cae­i­ro, Ri­car­do Reis, Ál­va­ro de Cam­pos und An­tó­nio Mora nicht nur die­se Viel­falt do­ku­men­tiert, son­dern zu den ganz gros­sen Wer­ken der Welt­li­te­ra­tur gehört.
Mit dem Band „Ge­nie und Wahn­sinn – Schrif­ten zu ei­ner in­tel­lek­tu­el­len Bio­gra­phie“ liegt also die „de­fi­ni­ti­ve, er­wei­ter­te Aus­ga­be der Wer­ke Fer­nan­do Pes­s­o­as in neu­er und über­ar­bei­te­ter Über­set­zung“ vor, wie der Ver­lag zu­recht fest­stellt. Und da­mit ein sehr schö­ner Ab­schluss ei­ner her­vor­ra­gen­den Werk­edi­ti­on, für die der Am­mann Ver­lag nicht ge­nug zu lo­ben ist.

Die Varianten von Wahnsinn und Genie…

Pes­soa im Lis­sa­bon der Zwanzigerjahre

Ver­rückt­wer­den be­deu­tet, dass man zu le­ben be­ginnt“. So be­fasst sich Pes­soa im ers­ten Teil die­ses Ban­des mit den Ge­ge­ben­hei­ten und Va­ri­an­ten von Wahn­sinn und Ge­nie, die sich nach sei­ner Auf­fas­sung ge­gen­sei­tig be­din­gen. Es sind al­ler­dings kei­ne in sich ge­schlos­se­nen Ab­hand­lun­gen, son­dern eher frag­men­ta­ri­sche Tex­te. Es ist, wie der Her­aus­ge­ber und Über­set­zer Stef­fen Dix in sei­nem vor­züg­li­chen Nach­wort aus­führt, eine Art der Selbst­ver­ge­wis­se­rung und der Selbst­ana­ly­se, der sich der Au­tor den­kend und schrei­bend un­ter­zieht. Die­se Ab­hand­lun­gen tra­gen aber wie auch die an­de­ren Ka­pi­tel die­ses Buchs dazu bei, das nach­fol­gen­de Werk des gros­sen Schrift­stel­lers et­was bes­ser zu verstehen.

Das gilt auch für die li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lich in­ter­es­san­te „Fra­ge­stel­lung Shake­speare-Ba­con“, so­wie die „Ab­hand­lun­gen“ zum The­ma „Li­te­ra­tur und Psych­ia­trie“ und „Über Kunst und Künst­ler“. Span­nend zu le­sen auch die „Aus­zü­ge aus ei­ni­gen Erzählfragmenten“.
Da­mit also sind „wie­der neue Mas­ken Pes­s­o­as (…) ans Ta­ges­licht be­för­dert“ wor­den. Wer­den es wirk­lich die letz­ten sein? Und was gibt die be­rühm­te „Fund­gru­be“, von der im­mer wie­der ein­mal ge­spro­chen wird, even­tu­ell noch her? Wir dür­fen ge­spannt sein. ♦

Fer­nan­do Pes­soa, Ge­nie und Wahn­sinn – Schrif­ten zu ei­ner in­tel­lek­tu­el­le Bio­gra­phie, aus dem Por­tu­gie­si­schen und Eng­li­schen von Stef­fen Dix, Am­mann Ver­lag Zü­rich, 442 Sei­ten, ISBN 978–3–250–10456-8


Ich werde Verleger bleiben bis an die Bahre“

Interview mit Egon Ammann

Ver­le­ger Egon Am­mann (1993)

Gün­ter Nawe: Herr Am­mann, mit dem Band „Ge­nie und Wahn­sinn“ liegt jetzt – so die Ver­lags­mit­tei­lung – „die de­fi­ni­ti­ve, er­wei­ter­te Aus­ga­be der Wer­ke Fer­nan­do Pes­s­o­as“ vor?

Egon Am­mann: „Ge­nie und Wahn­sinn“ ist ein wei­te­rer Band in der Rei­he von Am­manns Aus­ga­be der Wer­ke von Fer­nan­do Pes­soa. Die Tex­te, die in die­sem Band ver­sam­melt sind, sind tat­säch­lich auf dem neu­es­ten Stand der por­tu­gie­si­schen Quellentext-Forschung.

GN: Wirk­lich – oder ist in der be­rühm­ten „Tru­he“ noch et­was zu finden?

EA: Noch ist die Aus­ga­be nicht ab­ge­schlos­sen, es feh­len wich­ti­ge Pfei­ler von Pes­s­o­as Werk: Ein­mal die Ge­dich­te, die er un­ter sei­nem Na­men Fer­nan­do Pes­soa ge­schrie­ben hat, also Tex­te, die er kei­nem sei­ner He­te­ro­ny­me zu­ge­ord­net hat; eine Aus­wahl aus die­sem or­thony­men Pes­soa wird in der Über­set­zung von Inés Koe­bel 2013 bei S. Fi­scher er­schei­nen. Ein wei­te­rer Band mit eher theo­re­ti­schen Tex­ten zum Mo­der­nis­mus, in­spi­riert von Ma­ri­net­ti, wird 2012, über­setzt von Stef­fen Dix un­ter den Ti­tel „Sen­sa­tio­nis­mus“, der por­tu­gie­si­schen Va­ri­an­te des Mo­der­nis­mus, eben­falls bei S. Fi­scher erscheinen.

GN: Die­se „Schrif­ten zu ei­ner in­tel­lek­tu­el­len Bio­gra­phie“ sind so et­was wie „Fin­ger­übun­gen“ des da­mals noch jun­gen Pes­soa. Wel­chen Stel­len­wert ha­ben sie nach Ih­rer Mei­nung in­ner­halb des Gesamtwerks?

EA: Die Schrif­ten zu ei­ner, wie wir das Buch im Un­ter­ti­tel ge­nannt ha­ben, „In­tel­lek­tu­el­len Bio­gra­phie“ Fer­nan­do Pes­s­o­as sind wich­tig, da er sich mit bei­den The­ma­ta Ge­nie und Wahn­sinn, mit De­ge­ne­ra­ti­on und Psy­cho­pa­tho­lo­gie bis zu sei­nem Le­bens­en­de be­fasst hat, auch wenn die meis­ten der in die­sem Band ver­sam­mel­ten Tex­te aus sei­ner frü­hen Schaf­fens­zeit stam­men, also um 1907 bis zum Be­ginn des ers­ten Welt­kriegs. Sie bie­ten so tat­säch­lich Ein­blick in die See­len­struk­tur des be­deu­ten­den Portugiesen.

Pessoa als Schlusspunkt einer grossen Werkreihe

GN: Die Edi­ti­on der Wer­ke Fer­nan­do Pes­s­o­as ist so et­was wie ein „Schluss­punkt“ in ei­ner gros­sen und er­folg­rei­chen Rei­he be­deu­ten­der Werk­aus­ga­ben: Os­sip Man­del­s­tam, An­to­nio Macha­do, Fjo­dor Dos­to­jew­ski und Is­mail Ka­da­re. Und da­mit auch ein „Schluss­punkt“ für den Ver­le­ger Egon Am­mann. Warum?

EA: Sie ha­ben nicht un­recht, dass wir mit Fer­nan­do Pes­soa so et­was wie ei­nen Schluss­punkt un­se­rer edi­to­ri­schen Ar­beit set­zen, doch, wie ge­sagt, es wer­den noch zwei, drei Bän­de fol­gen, nicht mehr mit dem Im­pres­sum des Am­mann Ver­lags, aber bei S. Fi­scher. – Und ein end­gül­ti­ger Schluss­punkt wird die Aus­ga­be Pes­s­o­as nicht sein. Wir hat­ten vor zwei, drei Jah­ren mit zwei wich­ti­gen Wer­ken be­gon­nen, ei­ner Neu­über­set­zung von Dan­tes „Gött­li­cher Ko­mö­die“ durch Kurt Flasch. Die­ses Werk wird 2011 im Herbst bei S. Fi­scher er­schei­nen, ich darf es als Ver­le­ger be­glei­ten. Und dann ein gros­ser Ro­man, von sei­ner li­te­ra­ri­schen Be­deu­tung her wie von sei­nem Um­fang, ein Ita­lie­ner mit Na­men Ste­fa­no d’Arrigo, hier­zu­lan­de eher un­be­kannt, der Ti­tel sei­nes gros­sen Ro­mans „Hor­cy­nus Orca“, eine mo­der­ne Odys­see, wenn Sie so wol­len, die wäh­rend der Lan­dung de Al­li­ier­ten auf Si­zi­li­en spielt. Ein gross­ar­ti­ger Meer­ro­man, der zu den gros­sen Ro­man­wer­ken des vo­ri­gen Jahr­hun­derts zählt. Die­ses Werk wird vor­aus­sicht­lich 2013 eben­falls bei S. Fi­scher er­schei­nen. Und da­nach dürf­te, mit Sei­ner Hil­fe, Schluss sein.

GN: Sie ha­ben ein­mal ge­sagt: „Ich bin mit Leib und See­le Ver­le­ger“. Und Sie wa­ren es schliess­lich dreis­sig Jah­re lang – und sehr er­folg­reich. Gilt die­se Aus­sa­ge heu­te nicht mehr?

EA: Doch, ich bin Ver­le­ger und wer­de Ver­le­ger blei­ben bis an die Bah­re – oder Gru­be. Das ist und war mein Beruf.

Die Verlags-Branche steht auf der Schwelle zu einer Revolution

GN: Hat Ihr Rück­zug als Ver­le­ger et­was mit den Ent­wick­lun­gen in der Bran­che zu tun, mit den neu­en tech­ni­schen Ge­ge­ben­hei­ten oder auch mit den Ver­än­de­run­gen in­ner­halb der Literatur?

EA: Der Rück­zug, das heisst die Schlies­sung von „Am­mann“, hat ver­schie­de­ne Grün­de, auf die wir re­agiert ha­ben. Ei­ner da­von ist die Tat­sa­che, dass wir mit un­se­rer Bran­che auf der Schwel­le ei­ner Re­vo­lu­ti­on ste­hen. Gu­ten­berg wird nicht ab­dan­ken, da­von bin ich über­zeugt, aber das Ge­schäft wird an­de­re Wege ge­hen, so­wohl im her­stel­len­den wie im ver­trei­ben­den Buch­han­del. Das di­gi­ta­le Zeit­al­ter steht ante por­tas, und dem woll­te ich mich nicht mehr stel­len. Das sol­len die Nach­fol­gen­den, die Jun­gen bewältigen.

GN: In Ih­rem her­aus­ra­gen­den Ver­lags­pro­gramm gibt es – par­al­lel zu den ge­nann­ten gros­sen Über­set­zun­gen von Au­toren der zeit­ge­nös­si­schen Mo­der­ne – eine Viel­zahl pro­mi­nen­ter Ge­gen­warts­au­toren. Ich nen­ne nur Ju­lia Franck, Tho­mas Hür­li­mann, Na­vid Ker­ma­ni, Kat­ja Os­kamp. Was ge­schieht mit die­sen Au­toren und ih­ren Bü­chern – und al­len an­de­ren rund 800 Ti­teln – in Zukunft?

EA: Die­se Au­torin­nen und Au­toren, die zum Teil bei Am­mann de­bü­tiert oder bis zu­letzt in un­se­rem Haus ver­öf­fent­licht ha­ben, ha­ben in­zwi­schen neue Ver­lag­s­part­ner ge­fun­den, wor­über wir sehr froh sind. Für ei­ni­ge we­ni­ge su­chen wir noch Ver­la­ge, ich bin zu­ver­sicht­lich, dass wir auch für sie frü­her oder spä­ter neue Hei­ma­ten fin­den wer­den. Es sind durch­weg ernst­zu­neh­men­de, gute Schrift­stel­ler und Dich­ter, die wer­den ih­ren Weg gehen.

GN: Sie sind eine her­aus­ra­gen­de Per­sön­lich­keit, nicht nur als Ver­le­ger. Sie ha­ben ein Stück weit mit Ih­rem Ver­lag die li­te­ra­ri­sche Land­schaft ge­prägt. Was macht Egon Am­mann vor die­sem Hin­ter­grund in Zu­kunft? Blei­ben Sie auf die eine und an­de­re Wei­se der Li­te­ra­tur erhalten?

EA: Wie ich schon aus­ge­führt habe, wer­de ich die Werk­aus­ga­be von Pes­soa wei­ter­hin be­glei­ten, auch den Dan­te und den d’Arrigo, aber dann wer­de ich das Al­ter er­reicht ha­ben, wo ich mich mit mir und mei­nem Ab­tre­ten be­schäf­ti­gen muss. Auch das wird Ar­beit sein. – Ein Kol­le­ge von mir, Fried­rich Witz, der Be­grün­der des Ar­te­mis Ver­lags, hat sei­ne Bio­gra­phie mit dem viel­sa­gen­den Ti­tel „Ich wur­de ge­lebt“ über­schrie­ben. Ganz so ist es bei mir nicht ge­we­sen, ich konn­te und habe ge­stal­tet, ich habe ge­dient, ja, und dann kommt die stil­le Be­sin­nung auf das, was ge­we­sen ist, die Re­chen­schaft, das Be­schäf­ti­gen mit dem Ab­gang. Eine Bio­gra­phie je­doch wird es nicht ge­ben, so wich­tig ist die nicht und bin ich nicht. ♦

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Li­te­ra­ri­sche Bio­gra­phie auch Klaas Hui­zing: Zu dritt – Karl Barth

… so­wie das In­ter­view mit der Clau­di­us-Bio­gra­phin An­ne­len KraneFuss

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