Frank Martin: Werke mit Gitarre (CD)

Ausdrucksvolle Modernität des Saitenspiels

von Wal­ter Ei­gen­mann.

We­der be­herrsch­te Gen­fs be­rühm­tes­ter Pfar­rers­sohn und der Schweiz wohl meist­auf­ge­führ­ter Kom­po­nist sel­ber ak­zep­ta­bel die Gi­tar­re, noch kom­po­nier­te der Schöp­fer von Ora­to­ri­en wie „In ter­ra pax“, Opern wie „Der Sturm“ oder div. be­deu­ten­der Solo-Or­ches­ter­kon­zer­te de­zi­diert so­lis­tisch für die­ses In­stru­ment. Mit ei­ner Aus­nah­me: Im Jah­re 1933 schrieb Frank Mar­tin (1890-1974) sei­ne „Quat­re piè­ce brè­ves“ für Gi­tar­re solo.
Der vier­sät­zi­ge, sui­ten­ar­ti­ge Zy­klus ent­stand wohl auf An­re­gung des spa­ni­schen Gi­tar­ren­vir­tuo­sen An­drés Sego­via, der um 1930 her­um in Mar­tins Hei­mat­stadt weil­te, der aber dann die Zu­sen­dung der Par­ti­tur nicht be­ant­wor­te­te und das Werk auch nie öf­fent­lich spiel­te. Man kann spe­ku­lie­ren, ob Mar­tins in­ti­me, auch her­be, fast sprö­de, mit­nich­ten ag­gres­siv ato­na­le, aber zu­mal im Ver­gleich mit Sego­vi­as üb­li­chem „folk­lo­ris­ti­schem“ Re­per­toire durch­aus sehr avan­ciert an­mu­ten­de Ton­spra­che den welt­be­rühm­ten Mu­si­ker ab­schreck­ten, oder ob Sego­via ein­fach den spiel­tech­nisch nicht un­er­heb­li­chen Auf­wand für die­ses zehn­mi­nü­ti­ge Werk scheute.

Standards des Gitarren-Oeuvres

Frank Martin - Werke mit Gitarre - Musiques SuissesDer mu­sik­ge­schicht­li­chen Re­pu­ta­ti­on der Mar­tin­schen „Vier kur­zen Stü­cke“ tat’s in­des kei­nen Ab­bruch: In­zwi­schen wur­de ihre Spiel­bar­keit längst mit Auf­nah­men so nam­haf­ter Künst­ler wie Jür­gen Rost, Ju­li­an Bream, Jose Es­co­bar oder Ra­pha­el­la Smits do­ku­men­tiert, und sie zäh­len zu den un­ver­zicht­ba­ren Stan­dard-Wer­ken des klas­si­schen Gi­tar­ren-Oeu­vres wie des Gi­tar­ren-Stu­di­ums. Schon als per­so­nal­sti­lis­tisch wich­ti­ge Sta­ti­on nach Mar­tins in­ten­si­ver Aus­ein­an­der­set­zung mit Schön­bergs Zwölf­ton­tech­nik, mit­hin als kom­po­si­to­ri­sches Ex­pe­ri­ment, das ei­nen qua­si neo­klas­si­zis­ti­schen Rah­men mit eman­zi­pier­tem Ma­te­ri­al füllt und da­bei alle Klang­sinn­lich­keit be­hält, weist sich dies Opus auch im Ge­samt­werk Mar­tins als be­deut­sa­me Wen­de sei­ner Ent­wick­lung aus. Mit die­sen „Piè­ce brè­ves“ hat sich der Kom­po­nist be­zeich­nen­der­wei­se län­ger be­fasst; er be­ar­bei­te­te sie so­wohl für Kla­vier als auch spä­ter für Orchester.

Quatre pièce brèves“ als Ausgangspunkt

Frank Martin - Glarean-Magazin
Frank Mar­tin (Genf 1928)

Die „Quat­re piè­ce brè­ves“ fun­gie­ren denn auch als so­wohl zeit­li­cher wie sti­lis­ti­scher Aus­gangs­punkt ei­ner Disk, wel­che un­längst der deut­sche Gi­tar­rist Ha­rald Stam­pa ge­mein­sam mit Ben­ja­min Scheck (Gi­tar­re) und Ri­chard Pecho­ta (E-Bass­gi­tar­re) so­wie den Mu­si­kern Tino Brütsch (Te­nor), Sa­mu­el Zünd (Ba­ri­ton), René Koch (Bass), Bar­ba­ra VigFus­son (So­pran), Mi­ri­am Ter­rag­ni (Quer­flö­te), Ant­je-Ma­ria Traub und Gre­gor Loep­fe (Kla­vier) ein­spiel­te. „Frank Mar­tin – Wer­ke mit Gi­tar­re“ heisst die un­term be­kann­ten Schwei­zer La­bel „Mu­si­ques Su­is­ses“ auf­ge­nom­me­ne und im Rah­men des sog. „Mi­gros-Kul­tur­pro­zen­tes“ rea­li­sier­te CD, und sie prä­sen­tiert prak­tisch voll­stän­dig, was zu der Ver­bin­dung Martin&Gitarre zu sa­gen bzw. zu spie­len ist. Da wä­ren (ne­ben den er­wähn­ten „Piè­ces“) als CD-Auf­takt (aber zu­gleich Mar­tins Spät­werk zu­zu­rech­nen) die drei „Poè­mes de la mort“ (für 3 Män­ner­stim­men, 2 E-Gi­tar­ren und Bass­gi­tar­re), ent­stan­den in den Jah­ren 1969-71, in der Zeit sei­nes „Ma­ria „Tri­pty­chons“ und des Zwei­ten Klavierkonzertes.

Ihre li­te­ra­ri­sche Grund­la­ge be­zie­hen die drei „To­des-Ge­dich­te“ von Fran­cois Vil­lon, dem aben­teu­er­lich-va­ga­bun­die­ren­den, ge­nia­len Bal­la­den- und Bän­kel-Sän­ger des fran­zö­si­schen Spät­mit­tel­al­ters, wäh­rend sie mu­si­ka­lisch so­gar takt­wei­se An­lei­hen bei der (ly­ri­schen) Pop­mu­sik – am hör­fäl­ligs­ten in der „Bal­la­de“ – ma­chen. Dass der 80-jäh­ri­ge Mar­tin hier nicht nur be­züg­lich Be­set­zung (mit der Ver­wen­dung von Elek­tro-Gi­tar­ren), son­dern auch idio­ma­tisch die da­mals auf­kom­men­den po­pu­lä­ren ju­gend­li­chen Pop-Main­streams auf­griff, spricht ver­blüf­fend für Mar­tins Ex­pe­ri­men­tier­lust, sei­ne le­bens­lang bei­be­hal­te­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit neu­en mu­si­ka­li­schen Strö­mun­gen und für sei­ne Kraft der As­si­mi­la­ti­on. Die vor­lie­gen­de Ein­spie­lung legt Wert auf gröss­te klang­li­che Ver­schmel­zung und Dich­te: Un­ge­trüb­ter Hör­ge­nuss bei die­sem qua­si mit­tel­al­ter­li­chen Trio-Ge­sang in Kom­bi­na­ti­on mit mo­der­ner Sai­ten-Elek­tro­nik. Dem war­men, tra­gen­den Schmelz und dem nicht gar zu ex­pres­si­ven In­to­nie­ren der bei­den ho­hen Män­ner­stim­men kommt – ge­gen­über z.B. ei­ner Büh­nen­auf­füh­rung – die Auf­nah­me in der Walds­hu­ter Kir­che „Wald­kirch“ sehr entgegen.

Mittelalterlich archaisierendes Idiom

Martins
Mar­tins „Prélude“-Autograph

Ein ge­wis­ses mit­tel­al­ter­lich-ar­chai­sie­ren­des Idi­om – Mar­tin hat­te eine er­klär­te, zu­mal li­te­ra­ri­sche Af­fi­ni­tät zu die­ser Epo­che – schlägt im­mer wie­der auch in den „Drey Min­ne­lie­dern“ durch, wel­che Mar­tin 1960 als RIAS-Auf­trags­kom­po­si­ti­on (für Sopran&Klavier) schrieb und spä­ter für die hier ver­wen­de­te Fas­sung mit Flöte&Gitarre an­stel­le des Pia­no­parts be­ar­bei­te­te: Ei­ner­seits schlich­tes, pas­to­ra­les Dia­lo­gi­sie­ren im „Ach her­ze­liep…“ und im ers­ten Teil des „Ez stuont ein frou­we al­lei­ne…“ mit ei­ner stre­cken­wei­se fast im­pres­sio­nis­tisch be­han­del­ten Flö­te, wo­bei sich das Sai­ten­in­stru­ment mit der Bass­li­nie auf rhyth­misch mar­kie­ren­de Stüt­zung zu­rück­zieht, und an­de­rer­seits be­schwingt-ver­spiel­te, teils tän­ze­ri­sche Aus­ge­las­sen­heit im „Un­ter der lin­den…“. Drei reiz­voll in­ti­me, sehr in­spi­rier­te Text­ver­to­nun­gen, de­ren Aus­drucks­kraft durch eine in Vo­lu­men und Dy­na­mik eher zu­rück­hal­ten­de, die gros­se Phra­se be­to­nen­de So­pra­nis­tin sehr ein­fühl­sam un­ter­stri­chen wird.

Durchhörbarkeit und Noblesse des Satzes

Harald Stampa
Tech­ni­sche Sou­ve­rä­ni­tät in Ver­bin­dung mit de­kla­ma­to­ri­scher Ge­stal­tungs­kraft und fei­nem Klang­sinn: Kon­zert­gi­tar­rist Ha­rald Stam­pa (*1963)

Ge­schickt schob man auf der Plat­te nach die­sen drei Lie­bes­ge­sän­gen und der ab­schlies­sen­den, hüb­schen Kin­der-Pe­ti­tes­se „Quant n’ont as­sez fait dodo“ (für Te­nor, Gi­tar­re und Kla­vier 4-hän­dig) wie­der ein rein in­stru­men­ta­les Lu­di­um da­zwi­schen mit zwei der „Etu­des“ für Streich­or­ches­ter (1955/56) in der Be­ar­bei­tung für 2 Gi­tar­ren von Ha­rald Stam­pa. Hier­zu der Ar­ran­geur sel­ber im (über­haupt sehr in­struk­ti­ven, meis­ten­teils von Tho­mas See­dorf ver­fass­ten) CD-Book­let: „Die Paul Sa­cher ge­wid­me­ten Etü­den für Streich­or­ches­ter hat Frank Mar­tin selbst 1957 für zwei Kla­vie­re ein­ge­rich­tet. Für mich bo­ten sich be­son­ders die Etü­de Nr. 2, ori­gi­nal aus­schliess­lich piz­zi­ca­to von den Strei­chern ge­spielt und da­mit sehr gi­tar­ren­ähn­lich klin­gend, so­wie die Etü­de Nr. 3, die an ei­ni­gen Stel­len an den 2. Satz der Quat­re piè­ces brè­ves er­in­nert, für eine Tran­skrip­ti­on auf zwei Gi­tar­ren an.“ Auch hier wird mit der Gi­tar­re wie­der ein ganz ei­ge­ner Frank Mar­tin kam­mer­mu­si­ziert, den Durch­hör­bar­keit, ja Schlicht­heit des Sat­zes, ori­gi­nä­res Me­los, und „schö­ne No­bles­se“ des gan­zen mu­si­ka­li­schen Ha­bi­tus‘ auszeichnen.

Natürliche Melodik, expressive Harmonik

In an­de­rem Zu­sam­men­hang, näm­lich über sein In-Ter­ra-Pax-Ora­to­ri­um schrieb Frank Mar­tin ein­mal: „Ohne eine ein­zi­ge An­for­de­rung des Mu­si­kers in mir zu op­fern, habe ich ver­sucht […] eine Mu­sik zu schrei­ben, die das Ohr je­des Hö­rers er­reicht: durch eine so na­tür­li­che Me­lo­dik und eine so di­rek­te wie ex­pres­si­ve Har­mo­nik, als es mir nur mög­lich war.“

Frank Martin:
Frank Mar­tin: „…Mu­sik zu schrei­ben, die das Ohr je­des Hö­rers er­reicht: durch eine so na­tür­li­che Me­lo­dik und eine so di­rek­te wie ex­pres­si­ve Har­mo­nik, als es mir nur mög­lich war.“ (© Co­py­right 1959 by Uni­ver­sal Edi­ti­on A.G., Zürich/UE 12711)

Ge­ra­de die­se kom­po­si­to­ri­sche In­ten­ti­on ist auch om­ni­prä­sent in die­ser Aus­wahl-CD für Gi­tar­re: Eine fei­ne, in­ti­me, bis ins letz­te Ar­peg­gio dem In­stru­ment ab­ge­lausch­te, wenn­gleich we­ni­ger des­sen spiel­tech­ni­sches Po­ten­ti­al denn sei­ne Klang­welt, sein „Flui­dum“ aus­lo­ten­de und bei al­ler har­mo­ni­schen Fort­schritt­lich­keit im­mer spon­tan „nach­voll­zieh­ba­re“ Mu­sik. Her­aus­ra­gend bei der Rea­li­sie­rung die­ses kom­po­si­to­ri­schen Wil­lens da­bei der  Haupt­so­list der CD, der Walds­hu­ter Kon­zert­gi­tar­rist Ha­rald Stam­pa, des­sen nicht nur tech­nisch im­mer sou­ve­rä­nes, son­dern auch klang­sinn­li­ches, teils fast ro­man­tisch emp­find­sa­mes, teils pa­ckend-her­bes Spiel vor al­lem in den „Quat­re piè­ces“ eine in­ten­si­ve Be­schäf­ti­gung mit der Mar­tin­schen Ton­spra­che ver­mu­ten las­sen. Denn im Ge­gen­satz zu man­chen sei­ner Be­rufs­kol­le­gen scheut er die star­ke ago­gi­sche und dy­na­mi­sche De­kla­ma­ti­on ge­ra­de im Zu­sam­men­hang mit Mar­tins be­wusst an­ge­streb­ter satz­tech­ni­scher „Durch­hör­bar­keit“ nicht, wo­mit er aus­drucks­voll und span­nend der oft ge­le­se­nen (ei­gent­lich nach­ge­plap­per­ten) Ein­schät­zung ent­ge­gen­tritt, Mar­tins Me­los sei „brav-aus­ge­wo­gen“, „ty­pisch schwei­ze­risch“ halt…
Un­ein­ge­schränkt also prä­sen­tiert „Mu­si­ques Su­is­ses“ mit die­ser ni­veau­vol­len Mar­tin-Ein­spie­lung von Gi­tar­ren-Wer­ken eine in die­ser ori­gi­nel­len Werk­aus­wahl bis­her nicht an­ge­trof­fe­ne, sehr be­grüs­sens­wer­te CD-Pro­duk­ti­on zum ak­tu­ell 25. To­des­jahr ei­nes der be­deu­tends­ten hel­ve­ti­schen Komponisten. ♦

Frank Mar­tin, Wer­ke mit Gi­tar­re, Mu­si­ques Su­is­ses (Na­xos) (Mi­gros-Kul­tur­pro­zent), Au­dio-CD – 44 Minuten

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch über
Frank Mar­tin: Mes­se für Dop­pel­chor (CD)

… so­wie zum The­ma Gi­tar­ren-Mu­sik über
Jac­ques Stot­zem: Places we have been (Au­dio-CD)

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