Daniel Mylow: Fliegen (Kurzprosa)

Fliegen

Da­ni­el Mylow

Wie­der zu spät. In schrä­gen Schnit­ten fällt Licht auf den Weg. Die Tür öff­net sich. Es ist nicht viel zu be­spre­chen. Dann re­den wir doch noch. Die Zeit ver­geht. Ich sit­ze mit dem Rü­cken zum Wohn­zim­mer. Es ist so still. Er deu­tet mit dem Kopf in eine dunk­le Ecke des Zim­mers. Ob ich Na­tha­lie mit in die Stadt neh­men kön­ne. Der letz­te Zug nach Frank­furt. War­um nicht.
Die Häu­ser des Dor­fes blei­ben zu­rück. Wir schwei­gen. Über den Fel­dern steigt der Mond. Wun­der­schön. Am Ho­ri­zont ge­friert Licht. Na­tha­lie ist be­geis­tert. Ein schma­ler Feld­weg win­det sich über die Hü­gel. Grä­ser wach­sen ins Licht. Auf der Hü­gel­kup­pe stel­le ich den Wa­gen ab. Und der Zug, fra­ge ich. Sie lacht. Wir stei­gen aus. Es ist eine war­me Som­mer­nacht. Wie­sen im Mond­licht. Ist das kit­schig, sagt sie. Plötz­lich läuft sie fort. Am Feld­rand bleibt sie ste­hen und zieht sich aus. Sie nimmt mich an den Hän­den. Un­se­re Schat­ten wer­den lang und län­ger. Über ei­nen Heu­bal­len fal­len wir ins Gras. Es schim­mert. Sei­ne fah­len Spit­zen bre­chen ohne Laut. Ich spü­re das Ge­wicht ih­res nack­ten Kör­pers, wie er auf mir at­met. Da­nach ist es ganz still. Der Mond steht schon über den Hü­geln. Ein röt­li­cher Dunst schwebt über der Erde. Ver­dammt. Nur kei­ne Fra­gen. Oder doch: Wer bist du. Was hast du bei ihm ge­macht. Sie schweigt. Ein­mal noch wer­de ich sie fragen.
Er hat mir Geld ge­ge­ben. Viel Geld. Ich tue es nur manchmal.
Auf­ste­hen und ge­hen. Mond­licht und den gan­zen Ro­man­tik­scheiss ein­pa­cken und ge­hen. Mei­ne Fin­ger tas­ten über das Gras. Da ist die Er­in­ne­rung an ihre Haut.
Idi­ot, sagt sie. Trot­zig: wirk­lich nur manch­mal. Mir geht es gut. Papa sorgt schon für uns.
Ich schaue sie an. Wie schön sie ist. Also, sage ich. Sie zieht die Knie an ih­ren Kör­per. Die Haa­re fal­len ihr ins Ge­sicht. Ihre Stim­me wird hart, als sie erzählt.
Neun­zehn Jah­re Cri­vitz, ein klei­ner Ort in Meck­len­burg. Dann Frank­furt. Der Ar­beit we­gen. Ihre Schwes­ter ist mit acht­zehn fort, nie­mand weiss wo­hin. Der Bru­der trinkt. Sie holt das Ab­itur nach. Es wäre bes­ser, zu ar­bei­ten, meint Mama. Die geht sel­ber put­zen. Da­bei ist Papa doch In­ge­nieur. Sie er­zählt mit leuch­ten­den Au­gen. Wie er noch zur See ge­fah­ren ist. Ge­schich­ten abends am Bett. Sei­ne tie­fe Stim­me. Sei­ne Ge­duld. Spä­ter ist er zum Mi­li­tär. Und jetzt? Sie schweigt Dann lä­chelt sie. Wäre Papa nicht… Sie er­zählt und erzählt.
War­um tust du das dann, sage ich. Den­ke: mein Chef ist ein Schwein. Sie ant­wor­tet nicht. Die Schein­wer­fer der Au­tos tas­ten über die Felder.
Schau mal, sagt sie, und deu­tet mit dem Fin­ger nach oben. Über den zu­rück­ge­leg­ten Köp­fen schim­mert es dun­kel und kalt. Nacht­lich­ter. Ein Flug­zeug glei­tet lang­sam durch das Ge­häuf blas­ser Ster­ne. Noch et­was zu trin­ken, bit­te? Die Kopf­hö­rer be­fin­den sich vor Ih­nen in der Ab­la­ge. Die Toi­let­ten fin­den Sie je­weils am Ende der Gän­ge. Wir wün­schen Ih­nen ei­nen an­ge­neh­men Flug. Süd­ame­ri­ka? Australien?
Die Erde schrumpft. Flie­gen, nur flie­gen. Sie schaut dem Flug­zeug nach. Es ver­schwin­det über der Stadt auf dem Berg. Jetzt se­hen wir auf die Lich­ter der Stadt. Der Mond steht hoch über den Fel­dern. Mit den Fin­gern vor den Au­gen um­fas­se ich sei­nen Rand. So­viel Zeit ist ver­gan­gen. Sie schaut noch im­mer dem Flug­zeug nach. Der Zug ist fort. Der nächs­te geht am frü­hen Mor­gen. Noch fünf Stun­den Mond­an­star­ren. Oh weh. Und dann. Blei­be ich im Wa­gen sit­zen oder kom­me ich mit? War­ten auf den Zug. Ein Kuss viel­leicht zum Ab­schied. Mehr be­stimmt nicht. War­um auch.
Die Stadt, sagt sie. Eine sol­che Stadt war es. Auch auf ei­nem Berg. Und es ist Som­mer. Ihre Fa­mi­lie hat da oft Ur­laub ge­macht. Sie ha­ben ein schö­nes Haus auf der an­de­ren Sei­te des Ber­ges. Manch­mal ge­hen sie alle abends in der Stadt es­sen. Das war schön, sagt sie. Ab und zu darf sie auch schon al­lein nach Hau­se laufen.
Das ist ein Weg! Der führt rund um den Berg, und von über­all sieht man ganz weit auf die Ebe­nen. Viel­leicht ist es eine Nacht wie die­se. Sie bleibt oft ste­hen und sieht hin­ab auf die Wie­sen und Fel­der, die ver­trau­ten Lich­ter, den schwa­chen Ab­glanz des Mon­des über dem nacht­blau­en Himmel.
Da merkt sie ir­gend­wann ein­mal, dass ihr je­mand folgt. Lei­se, aber be­harr­lich. Sie läuft schnel­ler. Sie dreht sich um, aber sie sieht nie­man­den. Sie weiss, es ist noch weit. Vor ihr liegt nur der Wald, auf der an­de­ren Sei­te der Ab­hang. Dann bleibt sie ein­fach ste­hen. Vor Er­schöp­fung ist ihr ganz schwindlig.
Ein schma­ler, dun­kel­haa­ri­ger Jun­ge tritt auf sie zu. Er grinst. Hast ganz schön Pus­te, keucht er. Er hat sie in der Stadt ge­se­hen. Will ein­fach nur mit ihr re­den. Sagt er. Jetzt, im Som­mer, fliegt er Dra­chen auf den Hü­geln un­ter­halb ih­res Hau­ses. Ja, sie hat die Dra­chen­flie­ger oft be­ob­ach­tet. Auch ihr Va­ter ist ei­ner von ih­nen. Ob sie nicht mit­kom­men wolle.
Jetzt, in der Nacht? Ja, jetzt gleich. Nachts ist es, ob­wohl ver­bo­ten, am schöns­ten. Ge­mein­sam lau­fen sie den Weg zum Fe­ri­en­haus. Nun hat sie kei­ne Angst mehr. Der Hü­gel ist ein run­der, glän­zen­der Ke­gel. Das Dra­chen­se­gel knat­tert im Wind. Die Sil­hou­et­ten der Dra­chen leuch­ten un­wirk­lich ge­gen die Nacht. Start­vor­be­rei­tun­gen. Gut ver­schnürt und ver­zurrt lau­fen sie auf den Ab­hang zu… Und dann?
Sie schüt­telt den Kopf. Es ist nicht wahr, sagt sie. Es ist al­les ganz an­ders. Sie ist ru­hig, als sie weitererzählt.
Der Weg wird schma­ler und schma­ler. Der Jun­ge schielt nach al­len Sei­ten. Da­bei glotzt er ihr auf die Bei­ne, dass sie wie­der Angst be­kommt. Sie geht lang­sa­mer. Sagt, dass sie müde sei. Der Jun­ge nickt. Er er­zählt von den Dra­chen. Sie dreht sich um. Der Weg ist dun­kel und leer. Sie bin­det sich die Schu­he zu. Sie bleibt ste­hen, fragt nach Flug­hö­he, Fall­win­den, Un­wet­tern. Der Jun­ge wird un­ge­dul­dig. Komm, sagt er. Sie lau­fen wei­ter. Plötz­lich fällt er sie an, zieht sie ein Stück weit in den Wald. Sie kratzt ihn blu­tig, er ist stär­ker. Er reisst ihr das Kleid ent­zwei. Mit ei­nem Mes­ser ritzt er ihr die Haut quer über dem Bauch. Sie sieht das Blut. Jetzt liegt sie ganz still. Der Jun­ge wirft sich auf sie.
Da stürzt ein Schat­ten zwi­schen den Bäu­men her­vor. Noch ehe der Jun­ge re­agiert, liegt er wim­mernd im Gras. Ru­hig und ge­zielt pras­seln die Schlä­ge und Trit­te auf sei­nen Kör­per. Es dau­ert nicht lan­ge. Ihr Va­ter nimmt sie auf die Arme und trägt sie nach Hau­se. Wie im Film, lacht sie. Und kei­nen Mo­ment spä­ter. Hier. Sie zeigt auf ei­nen dün­nen Strich ver­narb­ter Haut über dem Na­bel. Ich lege mei­ne Hand dar­auf. Das ist schlimm, sage ich.
Vielleicht.
Mei­ne Fin­ger tas­ten über ihre Haut. Ich rede Un­sinn da­bei. Aber das ist ihr egal. Sie legt sich zu­rück ins Gras und schliesst die Augen.
Ein frem­des, un­er­war­te­tes Er­wa­chen. Es ist kühl. Wir wis­sen nicht, was wir mit­ein­an­der sol­len. Ich hal­te die Hand wie­der vor Au­gen. Zwi­schen mei­nen Fin­gern klebt der Mond. Eine Stun­de ist ver­gan­gen. Sie steht auf und zieht sich an. Ich sehe sie auf das Auto zu­ge­hen. Also. Ich wer­de noch war­ten, bis sie im Bahn­hof ver­schwun­den ist. Viel­leicht re­den wir noch. Ganz si­cher wer­den wir uns küs­sen. Das wäre schön. Nicht nur we­gen der Er­in­ne­rung. Ich zie­he mich an und lau­fe zu ihr. Dann stel­le ich mich ne­ben sie und neh­me ihre Hand. Die hal­te ich vor den Mond. Wir stei­gen jetzt in un­ser Mond­au­to, fah­ren zur Sta­ti­on und flie­gen mit ei­nem Dra­chen zur Erde. Sag doch was. Na­tha­lie dreht sich um. Sie weint.
Papa ist tot, sagt sie leise. ♦


Daniel Mylow - Schriftsteller - Glarean MagazinDa­ni­el Mylow

Geb. 1964 in Stutt­gart, Stu­di­um der Neue­ren Deut­schen Li­te­ra­tur, Psy­cho­lo­gie und Phi­lo­so­phie, Leh­rer­aus­bil­dung in Kas­sel, nach Tä­tig­kei­ten als frei­er Ver­lags­lek­tor von 2004 bis 2009 Ober­stu­fen­leh­rer an der Frei­en Wal­dorf­schu­le Hof, Poe­sie-Päd­ago­ge für Krea­ti­ves Schrei­ben, ver­schie­de­ne Kurz­pro­sa-Pu­bli­ka­tio­nen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, lebt in Hof/D

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3 Kommentare

  1. Vie­len Dank für die Ant­wort, Herr Ei­gen­mann. Und da­für, dass mein un­see­li­ger Kom­men­tar nicht den Weg in den Pa­pier­korb fand. 😉

    Ana­to­le France mag mit Si­cher­heit recht ha­ben. Je­doch ver­hält es sich mit der Li­te­ra­tur, wie mit der Lie­be: ste­te gleich­klin­gen­de Har­mo­nie nimmt ihr die Span­nung. So soll­te auch ein Schreib­stil nicht der Ein­tö­nig­keit verfallen.
    Eine Ge­schich­te braucht ein Vor­spiel, ei­nen Span­nungs­bo­gen (ziel­füh­ren­de Ge­dan­ken­gän­ge) und ei­nen Hö­he­punkt. Wenn der Hö­he­punkt durch den kür­zes­ten Satz dar­ge­stellt wird, ist er nicht sel­ten am ef­fek­tivs­ten. Ähn­lich wie es beim Hu­mor die Poin­te bewirkt.
    So ver­ste­he ich den Satz von Ana­to­le France.

    Mein obi­ger Kom­men­tar war vor­sätz­lich so ver­fasst, um das an­de­re Ex­trem auf­zu­zei­gen. Bei­de Ex­tre­me kön­nen in der Tat eine Hy­per­ven­ti­la­ti­on auslösen. 🙂

  2. Ab­ge­hack­ter Schreibstil?
    Nun ja, bei­spiels­wei­se ich mag auch sehr die hoch­ar­ti­fi­zi­el­le Spra­che ei­nes Tho­mas Mann – an­de­rer­seits, wie sag­te ei­ner der ge­ni­als­ten (und be­le­sens­ten) Li­te­ra­ten des 20. Jahr­hun­derts, näm­lich Ana­to­le France?

    Der schöns­te Satz? Der kürzeste!“

    Über­haupt: „Kon­zen­tra­ti­ons­wirk­sa­mes Ge­gen­teil“, „lang­wie­ri­ges Füh­len“, „nicht schwin­den­de Emo­tio­nen“, „mach­ba­re Sehn­süch­te“, „selbst­zu­frie­de­ne Be­deu­tung“ – da holt auch mein Sprach­ge­fühl tief Luft, be­vor es end­gül­tig hyperventiliert 😉

    W. E.

  3. Die­ser ab­ge­hack­te Schreib­stil mag mo­dern sein, je­doch wi­der­spie­gelt sich in ihm auch das heu­ti­ge Be­wusst­sein der meis­ten Men­schen. Vier oder fünf Wor­te zu ei­nem Satz – Punkt.
    Je­der Satz kommt viel­mehr wie ein Reiz und nicht wie ein ab­ge­schlos­se­ner Ge­dan­ke da­her. Ein Reiz hier – ein Reiz dort – und beim Le­sen zwi­schen den ein­zel­nen Rei­zen nach je­dem Punkt ein­mal Luft­ho­len nicht ver­ges­sen; denn so ha­ben wir den Punkt le­sen gelernt.
    Der In­halt wird über Hy­per­ven­ti­la­ti­on trans­for­miert, so dass die Auf­merk­sam­keit des Le­sers ge­fan­gen wer­den soll.
    Bei mir be­wirkt die­se Form ei­nes Tex­tes das kon­zen­tra­ti­ons­wirk­sa­me Ge­gen­teil: ich emp­fin­de schon nach den ers­ten Sät­zen eine split­ter­streu­en­de Krank­heit in mir hoch­stei­gen, von der ich mich an­ge­wi­dert abwende.

    Nicht um­sonst wird wohl ge­sagt, dass die Ge­sell­schaft krankt. Be­schrei­ben­de Bil­der­flu­ten in der Li­te­ra­tur sind mit Si­cher­heit ein pro­ba­tes Mit­tel, um den ober­fläch­li­chen, de­ge­ne­rier­ten Zeit­geist zu demonstrieren.
    Für die Nach­welt hof­fe ich, dass sie sich wie­der et­was mehr be­sin­nen kann und Wert auf das Den­ken, so­wie auf lang­wie­ri­ges Füh­len legt. Denn nur in der Tie­fe sei­nes Geis­tes, ver­bun­den mit nicht schwin­den­den Emo­tio­nen, kann ein Mensch die Er­fül­lung mach­ba­rer Sehn­süch­te fin­den, wel­che sei­nem Le­ben erst eine selbst­zu­frie­de­ne Be­deu­tung schen­ken können.

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