Georges Raillard: Der richtige König (Parabel)

Der richtige König

Ge­or­ges Raillard

Wie­der wer­den die brei­tes­ten Stras­sen der Haupt­stadt ge­sperrt, wer­den Ab­schran­kun­gen auf­ge­stellt, wird der Ver­kehr weit­räu­mig um­ge­lei­tet. Wie­der pos­tie­ren sich an al­len stra­te­gi­schen Punk­ten Si­cher­heits­kräf­te in Uni­form und Zi­vil. Wie­der strömt das Volk her­zu, staut sich hin­ter den Schran­ken, säumt dun­kel die hel­le Asphalt­stre­cke wie Un­ge­zie­fer ei­nen be­fal­le­nen Pflan­zen­stiel. Stun­den­lang harrt es, ob in Hit­ze, Re­gen oder Käl­te, ge­dul­dig und un­be­irr­bar und im­mer wie­der vol­ler Er­war­tung, des Vorbeizugs.
„Wozu brau­chen Sie denn ei­nen Kö­nig?“ fragt der Re­por­ter eine äl­te­re Frau, die sich mit ver­schränk­ten Ar­men auf die Ab­zäu­nung stützt.
Die Frau starrt ihn ver­ständ­nis­los an, zuckt schliess­lich mit den Schul­tern und wen­det sich rasch ab, als müss­te sie sich schämen.
Thron­an­wär­ter zie­hen mehr­mals in der Wo­che vor­bei, auf ge­schmück­ten Ele­fan­ten rei­tend, auf bun­ten Streit­wa­gen ste­hend, von ei­ner Her­de schäu­men­der Pfer­de ge­folgt, im Cock­pit ei­nes ul­tra­mo­der­nen Dü­sen­jets sit­zend, ei­nen Trupp im Tarn­an­zug kom­man­die­rend oder von ei­nem Dut­zend leicht­be­klei­de­ter Mäd­chen um­schwärmt. Mit solch ex­or­bi­tan­tem Auf­wand buh­len sie um das Volk, denn das Volk ist ihr Rich­ter: Es al­lein be­stimmt, wer der rich­ti­ge Kö­nig sei.
Das Volk ist nicht leicht zu ge­win­nen. Eine ein­zi­ge un­ge­schick­te Hand­be­we­gung, ein Kopf­ni­cken zur fal­schen Zeit, eine un­pas­sen­de Ge­wan­dung, und das Volk buht und wen­det sich ent­täuscht weg. Seit Mo­na­ten, ja Jah­ren konn­te kein Kö­nig das Volk überzeugen.
Die Span­nung ist gross. Man­che hal­ten ein Tran­sis­tor­ra­dio ans Ohr ge­klemmt. Vor der Stadt fän­den blu­ti­ge Ge­fech­te statt, hört man. Von ei­nem Du­ell wird be­rich­tet, bei dem der Sie­ger dem Be­sieg­ten den Kopf ab­schnei­de, um sich da­mit für den Vor­bei­zug zu schmü­cken. Der heu­ti­ge An­wär­ter kom­me als Pi­ra­ten­häupt­ling auf ei­nem gros­sen Se­gel­schiff, heisst es, das in ei­nem rie­si­gen, von Sat­tel­schlep­pern ge­zo­ge­nen Was­ser­be­cken schwim­me. Ge­rüch­te lau­fen aus wie Flüs­sig­keit aus le­cken Tanks, flies­sen zu­sam­men, schwel­len an, rau­schen durch die Men­schen­men­ge und he­ben sie em­por. Stim­men über­schla­gen sich, über­schrei­en ein­an­der, ze­tern. Aber noch im­mer ist die gan­ze Stre­cke lang nichts zu sehen.
„Wozu brau­chen denn Sie ei­nen Kö­nig?“ fragt der Re­por­ter nun ei­nen jün­ge­ren Mann, auf des­sen Schul­tern ein klei­nes Mäd­chen sitzt und ein Fähn­chen schwenkt.
Der Mann denkt nach, sagt dann: „So­bald ich ihn sehe, weiss ich’s vielleicht.“
„Aber wie wis­sen Sie denn, wel­ches der rich­ti­ge Kö­nig ist?“ hakt der Re­por­ter rasch nach.
Der Mann ant­wor­tet nicht. Nie­mand spricht plötz­lich mehr. Das Stim­men­ge­wirr, wie durch­ge­schnit­ten. Alle Bli­cke in eine Rich­tung, nach links die Stras­se ent­lang. Re­cken tau­sen­der Häl­se, Schar­ren tau­sen­der Füs­se, Drän­gen und Drü­cken. Der Re­por­ter spürt frem­den, war­men Atem in den Haa­ren, im Na­cken, an den Schul­tern, an den Ar­men. Jetzt wird ein Schritt hör­bar, deut­lich und ge­mes­sen, der Schritt ei­nes Ein­zel­nen, der Schritt ei­nes Ein­zi­gen, nä­her und nä­her. Wer ist es? Wie ist er? Noch ist nichts entschieden!
Der Mann mitt­le­rer Grös­se, mitt­le­ren Al­ters schrei­tet ohne Eile sei­nes Wegs. Sein Blick ist in die Fer­ne ge­rich­tet: Sei­nes Zie­les und sei­ner An­kunft ist er sich ge­wiss. Ge­klei­det ist er schlicht, beige Ho­sen, hell­blau­es Hemd. Er geht ganz al­lein und scheint nichts zu brauchen.
„Ein Schwäch­ling, hat nie­man­den“, ruft jemand.
„Im Ge­gen­teil“, wi­der­spricht je­mand an­ders, „noch nie war ei­ner so stark, al­lein und mit­tel­los zu kommen.“
An­de­re Stim­men er­he­ben sich, er­hit­zen sich im Da­für und Da­wi­der. Wor­te gel­len hin und her. Rat­los steht der Re­por­ter mit­ten im Streit und sieht dem An­wär­ter nach, der ru­hig wei­ter­schrei­tet und sich ent­fernt. Da wen­det sich der jün­ge­re Mann mit vor Er­re­gung ge­rö­te­tem Ge­sicht um und schreit dem Re­por­ter durch den Lärm hin­durch zu:
„Se­hen Sie’s? Dies ist der rich­ti­ge Kö­nig! Er stif­tet die Zwie­tracht, in der wir uns selbst fin­den. Jetzt kön­nen wir auf­be­geh­ren. Ohne Kö­nig sind wir nichts als ein ein­zi­ger har­ter Kör­per und nicht im­stan­de, uns ge­gen uns selbst zu wenden.“ ♦


Georges Raillard - Glarean MagazinGe­or­ges Raillard

Geb. 1957 in Basel/CH, Schrift­stel­ler und Kom­po­nist (Gi­tar­ren­mu­sik), leb­te 18 Jah­re als Über­set­zer und Sprach­leh­rer in Ma­drid, seit 2001 wie­der in Basel

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