Peter Ahrendt: Zum 10. Todesjahr von Grete Weil

Ich bin eine schlechte Hasserin“

Über die jüdische Schriftstellerin Grete Weil

von Peter Ahrendt

Je wei­ter Ausch­witz ent­fernt ist, des­to nä­her kommt es, die Jah­re da­zwi­schen sind weg­ge­wischt. Ausch­witz ist Rea­li­tät, al­les an­de­re Traum. Nicht Maut­hau­sen, wo Wai­ki er­mor­det wur­de und ich mit ihm. Das Ent­set­zen hat sich vom ei­ge­nen Schick­sal ver­la­gert auf das der vie­len. Ausch­witz ist Chif­fre, kein Ort auf der Landkarte.
Mei­ne Ner­ven re­agie­ren auf jede Ge­walt, Men­schen, ihre Mör­der, eine sa­dis­ti­sche Meu­te be­am­te­ter, uni­for­mier­ter Pei­ni­ger. El­tern, die ihre Kin­der quä­len, Ehe­leu­te, die sich lang­sam er­wür­gen, Ge­met­zel mit Ba­jo­net­ten, Peit­schen, Elek­tro­den, Wör­tern, in Fol­ter­kam­mern und gu­ten Stu­ben. Es ver­folgt mich.“

Es verfolgt mich“

Grete Weil (1906-1999)
Gre­te Weil (1906-1999)

So steht es in ei­nem Buch, das ich vor ei­ni­gen Jah­ren, und mit dring­li­cher Le­se­emp­feh­lung, ge­schenkt be­kam: in Gre­te Weils Ro­man „Ge­ne­ra­tio­nen“.1
Die­ses Buch be­ein­druck­te und be­weg­te mich der­art, dass ich dar­auf­hin alle wei­te­ren Bü­cher der Weil las und be­gann, mich mit Le­ben und Werk der Au­torin zu be­schäf­ti­gen, ei­ner Au­torin, die nur ein Le­bens­the­ma hat: Die Ju­den­ver­fol­gung (ihr ei­ge­nes Schick­sal), den Fa­schis­mus und die Nicht­auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit durch die Deut­schen. Ein The­ma, das sie im­mer er­neut ge­stal­te­te, in ein­fa­cher, kla­rer, oft stak­ka­to­haf­ter Spra­che, un­be­schö­nigt, aber nicht unschön.

Glückliche Kindheit: verwöhnt und verhätschelt

Gre­te Weil wur­de 1906 in Rot­tach-Egern am Te­gern­see als Mar­ga­re­te Eli­sa­beth Dispe­ker ge­bo­ren, Toch­ter ei­ner gross­bür­ger­li­chen jü­di­schen Fa­mi­lie, und ver­leb­te nach ih­ren ei­ge­nen Wor­ten eine un­end­lich glück­li­che Kind­heit, ver­wöhnt und ver­hät­schelt. Sie stu­dier­te Ger­ma­nis­tik in Ber­lin, Mün­chen und Frankfurt/M, be­gann zu schrei­ben, denn Schrift­stel­le­rin zu wer­den war ihr ei­gent­li­ches Le­bens­ziel schon früh, und hei­ra­te­te 1932 den Dra­ma­tur­gen der Münch­ner Kam­mer­spie­le Ed­gar Weil, dem sie 1936 nach Hol­land ins Exil folgte.
Dort ar­bei­te­te sie zu­nächst als Por­trait-Pho­to­gra­phin. Als die Nie­der­lan­de ka­pi­tu­lier­ten (1940), ver­such­ten sie und ihr Mann nach Eng­land zu flie­hen, aber der Ver­such miss­lang. 1941 wur­de Ed­gar Weil auf der Stras­se ver­haf­tet und im KZ Maut­hau­sen er­mor­det. Gre­te Weil mel­de­te sich zur Ar­beit beim jü­di­schen Rat in der „Schouw­burg“ in Ams­ter­dam, dem Sam­mel­la­ger für die zur De­por­ta­ti­on be­stimm­ten Ju­den, als Selbst­ret­tung und um nach Kräf­ten die De­por­ta­tio­nen zu be­hin­dern und zu ver­zö­gern. Im Herbst 1943 tauch­te sie je­doch bei Freun­den un­ter und überlebte.

Aussöhnung ohne Vergessen

Nach­dem die Deut­schen den Ju­den 1941 die Staats­bür­ger­schaft ab­erkannt hat­ten, war auch Gre­te Weil staa­ten­los ge­wor­den, und da die Al­li­ier­ten nach dem Krieg kei­ne Staa­ten­lo­sen nach Deutsch­land lies­sen, ging sie 1947 heim­lich über die grü­ne Gren­ze in die Hei­mat zu­rück, in das trotz al­lem ge­lieb­te Land. Im­mer hat­te sie sich als Deut­sche ge­fühlt, denn ihre Spra­che und ihre Kul­tur wa­ren deutsch. Sie söhn­te sich aus mit die­sem Land und die­sem Volk, aber ohne zu ver­ges­sen oder zu ver­drän­gen. Ihr Schick­sal, das Schick­sal ih­rer Lei­dens­ge­nos­sen blieb ihr ge­gen­wär­tig und wur­de das The­ma ih­rer nun im fort­ge­schrit­te­nen Al­ter wie­der auf­ge­nom­me­nen li­te­ra­ri­schen Pro­duk­ti­on: „Zwölf Jah­re nicht ge­schrie­ben, in der Zeit, die ent­schei­det, in der man die bes­ten Ein­fäl­le hat und die meis­te Kraft. Nach dem Krieg schrei­be ich ein paar Bü­cher. Sie han­deln von Krieg und De­por­ta­ti­on. Ich kann von nichts an­de­rem er­zäh­len. Der An­gel­punkt mei­nes  Le­bens.“2

Ans Ende der Welt

Ans Ende der Welt“3 hiess ihr ers­tes Buch, das 1949 in Ber­lin er­schien. Die­se Er­zäh­lung ist eine Dar­stel­lung ih­rer Er­fah­run­gen in der Schouw­burg. Hier sind hun­der­te von Men­schen je­den Al­ters zu­sam­men­ge­pfercht in Er­war­tung ih­res Schick­sals, so auch ein Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor mit Frau und Toch­ter, ei­ner der nur sehr lang­sam be­greift, dass den Na­zis sei­ne so­zia­le Stel­lung, sei­ne Ver­diens­te nichts be­deu­ten, dass auch er nur eine Num­mer in den Lis­ten ist, ei­ner von vie­len, die ster­ben müs­sen. Be­klem­mend ist die­se Schil­de­rung der At­mo­sphä­re von Angst, Ver­zweif­lung, Hoff­nung auch, an die sich die Ver­lo­re­nen klam­mern, und an­rüh­rend die Be­geg­nung der Toch­ter An­na­beth mit dem Jun­gen Ben und ihre ers­te scheue Lie­be im An­ge­sicht des na­hen Todes.
Die­ses Buch wur­de zwar von ei­nem Al­bert Eh­ren­stein als „knap­pes Meis­ter­werk“ be­zeich­net, „eine ein­fa­che, herz­er­grei­fen­de Ge­schich­te von Lie­be und Tod, die vie­le ken­nen sol­len, ken­nen müs­sen …“4, aber ein Er­folg war es nicht, kaum je­mand woll­te nach dem Krieg et­was wis­sen von die­sen Din­gen, man war be­schäf­tigt da­mit Neu­es auf­zu­bau­en und das Alte zu verdrängen.

Nachdenken über die deutsche Schande

Weil-Libretto zu Henz-Oper-Boulevarde Solitude
Weil-Li­bret­to zu Henz-Oper: „Bou­le­var­de So­li­tu­de“ (Auf­nah­me von 1953)

Aber die Weil schrieb wei­ter. Nach­dem sie ih­ren Ju­gend­freund, den Opern­re­gis­seur Wal­ter Jo­ckisch wie­der­ge­fun­den hat­te, (den sie 1960 hei­ra­te­te), ent­stand zu­nächst, zu­sam­men mit ihm, das Li­bret­to zu Hans Wer­ner Hen­zes Oper „Bou­le­vard So­li­tu­de“, die 1952 in Han­no­ver ur­auf­ge­führt wur­de, so­wie der Text zu Fort­ners Pan­to­mi­me „Die Wit­we von Ephe­sus“ (Ur­auf­füh­rung in Ber­lin 1952). Sie über­setz­te Bü­cher aus dem Eng­li­schen (Dur­rell, Ai­ken, Buchanan, Haw­kes) und Hol­län­di­schen (J. Brou­wers), tex­te­te Kurz­fil­me, be­sprach Bü­cher im Funk, und be­vor ihr nächs­tes Buch er­schien, ver­ging Zeit. Aber sie hat­te sich kei­nes­wegs ab­ge­fun­den mit der prak­ti­zier­ten „Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung“ der Deut­schen. Sie be­stand wei­ter dar­auf, über die deut­sche Schan­de nach­zu­den­ken, zu re­den, zu schreiben.

Schonungslose Offenheit

Und sie tat es mit scho­nungs­lo­ser Of­fen­heit in dem 1963 er­schie­nen Ro­man „Tram­hal­te Beet­ho­ven­stra­at“5, in dem sie aber­mals ihre Hol­land-Er­leb­nis­se zu ver­ar­bei­ten sucht. In­dem sie hier ei­nen jun­gen deut­schen Jour­na­lis­ten zum Prot­ago­nis­ten macht, der 1942 als Be­richt­erstat­ter in Ams­ter­dam Zeu­ge der Ju­den­de­por­ta­tio­nen wur­de, be­müht sie sich um et­was ob­jek­ti­vie­ren­de Distanz.
Aber auch er will nach dem Krieg nicht ver­ges­sen, sich nicht ar­ran­gie­ren, son­dern ver­sucht auf ei­ner Rei­se in die Ver­gan­gen­heit mit sich und sei­nen Er­in­ne­run­gen ins Rei­ne zu kom­men. Ein auf­wüh­len­des Buch, das er­greift und an­greift, kei­ne ge­müt­li­che Lek­tü­re, „in ei­ner Pro­sa von gros­ser Schlicht­heit und Wär­me, Di­rekt­heit und Kraft, wie man sie sel­ten fin­det“,6 wie Mar­tin Gre­gor-Del­lin schrieb.

Ein Ghetto des Nichtwissenwollens

1968: „Hap­py, sag­te der On­kel“7 – drei Im­pres­sio­nen aus Ame­ri­ka, auch dort wie­der das stän­di­ge The­ma. Die Ti­tel­er­zäh­lung schil­dert ei­nen Be­such bei Ver­wand­ten, die der Ver­nich­tung im Drit­ten Reich ent­ron­nen, die Ver­gan­gen­heit völ­lig ver­drängt ha­ben und als 150prozentige Ame­ri­ka­ner jede Er­in­ne­rung dar­an weit von sich wei­sen. Sie ha­ben sich rüh­rend in ein Ghet­to aus Nicht­wis­sen­wol­len, Nicht­an­rüh­ren zu­rück­ge­zo­gen, eine Hal­tung, die Gre­te Weil bit­te­rem Spott an­heim­gibt. In der zwei­ten Skiz­ze („Glo­ria Hal­le­lu­ja“) be­sucht sie Har­lem, ein Ghet­to von heu­te, in dem sie mit Hass und Ab­leh­nung kon­fron­tiert wird. Es gibt kei­ne So­li­da­ri­tät der Un­ter­drück­ten und Ver­folg­ten, wenn sie ver­schie­de­ner Haut­far­be sind. Schliess­lich eine Tou­ris­ten­rei­se nach Me­xi­ko, ins az­te­ki­sche Chi­chen-Itza, auch das eine Schä­del­stät­te, für die Weil eine Par­al­le­le zu Ausch­witz, und dort be­geg­net sie ei­nem SS-Scher­gen wie­der (oder glaubt ihm zu be­geg­nen), der jetzt als Frem­den­füh­rer tä­tig ist. An­lass zu ei­ner Selbst­be­fra­gung, ei­nem noch­ma­li­gen Durch­le­ben der schlim­men Ver­gan­gen­heit („B sa­gen“). Spä­ter no­tiert sie: „Ich ver­ste­he je­den, habe eine Ge­schich­te ge­schrie­ben, in der ich mich mit ei­nem SS-Mann iden­ti­fi­zie­re, wir ha­ben bei­de über­lebt, sind bei­de schul­dig“8.

Schuld des Überlebens

Schuld des Überlebens:
Schuld des Über­le­bens: „Spät­fol­gen“ (Gre­te Weil)

In ih­rem letz­ten Buch, mit dem be­zeich­nen­den Ti­tel „Spät­fol­gen“ setzt sie sich in klei­nen Er­zäh­lun­gen noch­mals mit dem Wei­ter­wir­ken des Ent­setz­li­chen und mit der Scham des Über­le­ben­den aus­ein­an­der. Da ist je­nes jü­di­sche Mäd­chen, das dem Nazi-Mor­den ent­kommt, auf ei­ner Rei­se durch das heu­ti­ge Deutsch­land ei­nen Au­to­un­fall er­lei­det und stirbt, weil sie sich von kei­nem deut­schen Arzt an­fas­sen las­sen kann („Don’t touch me“). Oder je­ner Mann, der nach Ita­li­en zu­rück­kehrt, an die Orte eins­ti­gen Glücks mit der in So­bi­bor ver­gas­ten Bel­la und sich dort er­schiesst, weil er sich als Über­le­ben­der schul­dig fühlt. („Das Schöns­te der Welt“). Der Band ent­hält auch eine Neu­fas­sung von „Hap­py, sag­te der On­kel“ („Das Haus in der Wüs­te“), die im we­sent­li­chen eine Straf­fung dar­stellt, eine stren­ge­re, knap­pe­re Form; die­se Be­ar­bei­tung zeigt, dass Gre­te Weil auch ge­ra­de an die­ser Ge­schich­te über Ver­drän­gung und Ar­ran­gie­rung viel ge­le­gen war.
1970 starb auch Wal­ter Jo­ckisch, und Gre­te Weil, jetzt 64 Jah­re alt, al­lein, nicht mehr ge­sund, noch heim­ge­sucht von den Ge­spens­tern der Ver­gan­gen­heit, schrieb je­nen Ro­man, der 1980 ih­ren künst­le­ri­schen Durch­brach brach­te: „Mei­ne Schwes­ter Antigone“.

Gegenwart gewordene Vergangenheit

In Auf­zeich­nun­gen ei­ner al­ten Frau, die mi­nu­zi­ös ih­ren Ta­ges­ab­lauf no­tiert, ihr Le­ben al­lein, ihr Lei­den an der Ein­sam­keit, die sie doch auch braucht, ihr Lei­den am Al­ter, das sie doch mit ver­bis­se­nem Stolz trägt, und ihr Rin­gen mit dem un­fer­ti­gen und nie voll­ende­ten Antigone-Stoff.
Die so­pho­klei­sche Hel­din, die sie be­schäf­tigt und ver­folgt, sieht sie als Eben­bild, aber auch als Ge­gen­part, des­sen Hand­lun­gen sie in un­zäh­li­gen Ge­dan­ken­spie­len ana­ly­siert und in­ter­pre­tiert, im­mer in Be­zug auf sich selbst. An­ti­go­ne aber auch als re­bel­li­sche Ver­kör­pe­rung ei­ner Ju­gend, „die uns nicht die kleins­te Aus­flucht er­laubt, die­se Welt noch in Ord­nung zu fin­den“9, ei­ner Ju­gend, für die die Au­torin Ver­ständ­nis und Zu­nei­gung empfindet.
Im­mer wie­der sind da auch die Er­in­ne­run­gen an ihre to­ten Ehe­män­ner, auch an ih­ren ver­schwun­de­nen Hund, den ein­zi­gen ver­blie­be­nen Ge­fähr­ten, vor al­lem aber an die furcht­ba­re Ver­gan­gen­heit, die Ver­fol­gung, die Zeit im jü­di­schen Rat in Ams­ter­dam, die un­ver­mit­telt in die Ge­gen­warts­schil­de­run­gen ein­ge­fügt und da­mit selbst zur stän­di­gen Ge­gen­wart wer­den. Noch nie wur­den zu­dem die Pro­ble­me des Al­terns, die Ein­sam­keit wie der Kampf um eine wür­di­ges sinn­vol­les Da­sein so ein­dring­lich beschworen.

Verschachtelte Zeitebenen

„Auf­lö­sung“ des pol­ni­schen Ghet­tos Pio­tr­kow (Pe­trik­au): „Die Bes­tie Mensch“

Am Ende wer­den die Zeit­ebe­nen im­mer stär­ker ver­schach­telt, durch­drin­gen sich Er­in­ne­run­gen der Au­torin, die Iden­ti­fi­zie­rung mit An­ti­go­ne, die Ge­gen­wart, die Kind­heit, die hy­po­the­ti­schen Er­leb­nis­se so stark, dass sie fast un­trenn­bar wer­den. Letzt­lich wird die Er­zäh­le­rin nicht da­mit fer­tig, dass sie hin­ge­nom­men hat, nicht wie An­ti­go­ne auf­ge­stan­den ist und um den Preis des Un­ter­gangs ein Zei­chen der Re­vol­te ge­ge­ben hat.
Ein­ge­fügt in die­ses Buch ist ein furcht­ba­res Do­ku­ment: 20 Sei­ten ei­nes Au­gen­zeu­gen­be­richts über die „Auf­lö­sung“ des Ju­den-Ghet­tos Pe­trik­au (Pio­tr­kow) 1943, den Fried­rich Hell­mund ge­schrie­ben hat­te, ein let­ti­scher Au­tor, 1945 in Po­len ver­misst. Hier wird nüch­tern-sach­lich, aber mit bru­ta­ler Deut­lich­keit vor­ge­führt, was sich hin­ter so leicht zu hand­ha­ben­den Vo­ka­len wie „Ghet­to-Auf­lö­sung“ und „End­lö­sung“ ver­birgt: die Bes­tie Mensch in ge­ra­de­zu un­vor­stell­ba­rer Form. Die­ses Do­ku­ment macht mit ei­nem Schlag auch dem letz­ten Zweif­ler klar, war­um die Weil nicht ver­ges­sen kann, nicht ver­ges­sen will, und war­um sie das Er­schies­sungs­kom­man­do hin­ter sich spürt, wenn sie Erde im Gar­ten aus­hebt, um Blu­men zu pflan­zen, war­um sie Sym­pa­thie hat mit der ver­folg­ten „Sym­pa­thi­san­tin“.

Der Erfolg tut weh, der Preis war zu hoch“

Das Buch war, wie ge­sagt, ein Er­folg. „Der spä­te Er­folg tut gut. Der spä­te Er­folg tut weh“, schrieb sie, „der Preis war zu hoch. Ich bin Zeu­ge, und als Zeu­ge muss ich aus­sa­gen. Und die­ser Zwang hat mir Kraft ge­ge­ben durch­zu­hal­ten. Vie­le Jah­re woll­te es nie­mand hö­ren, aber das ist an­ders ge­wor­den.“10
Die Of­fen­heit ei­ner nach­ge­wach­se­nen Ge­ne­ra­ti­on für die längst über­fäl­li­ge Be­schäf­ti­gung mit der jün­ge­ren deut­schen Ge­schich­te trug si­cher zum Er­folg auch des nächs­ten Bu­ches bei, jene „Ge­ne­ra­tio­nen“ von 1983. Hier wird der Ver­such ei­ner Wohn­ge­mein­schaft drei­er un­ter­schied­li­cher Frau­en ge­schil­dert: Ei­ner äl­te­ren, die Au­torin mit der schwe­ren Hy­po­thek der Ver­folg­ten und Ge­de­mü­tig­ten, ei­ner Jun­gen und ei­ner Frau mitt­le­ren Al­ters, bei­de ohne die­se Erfahrungen,aber mit ei­ge­nen Pro­ble­men und auch mit ei­nem ge­wis­sen rück­sichts­lo­sen Ego­is­mus. Der Ver­such die­ses Zu­sam­men­le­bens ver­schie­de­ner Ge­ne­ra­tio­nen schei­tert, an Miss­ver­ständ­nis­sen, Emp­find­sam­kei­ten, Ri­va­li­tä­ten. Die Jun­ge sucht ih­ren ei­ge­nen Weg, eine Ar­beit, in der sie sich ver­wirk­li­chen kann, die mitt­le­re ist eine ein­zel­gän­ge­ri­sche Künst­le­rin, und alle füh­ren in wech­seln­den Kon­stel­la­tio­nen ei­nen Kampf um Wär­me, Ver­ste­hen, Freund­schaft, wozu letzt­lich kei­ner fä­hig ist, weil je­der mit sei­nem Ge­schick auf ei­ner In­sel lebt.
Auch dies wie­der ein Ta­ge­buch (in dem üb­ri­gens die Ent­ste­hung der „An­ti­go­ne“ ver­folgt wer­den kann), und ei­gent­lich ein sehr ähn­li­ches Buch, doch neu auf­ge­rollt, neu ge­spie­gelt, der Ein­sam­keit dort ein Ver­such von Ge­mein­schaft hier ge­gen­über­ge­stellt, stets im Schat­ten der Vergangenheit.

Keine Wehleidigkeit

Grete Weil - Glarean Magazin
Gre­te Weil in ei­nem In­ter­view vor ei­ni­gen Jahren

Aber hier, wie im­mer bei der Weil, fehlt jede Weh­lei­dig­keit, jede Lar­moy­anz, im­mer bleibt sie nüch­tern, von gros­ser, har­ter Auf­rich­tig­keit, scho­nungs­los auch sich selbst ge­gen­über. Und noch­mals, nach ei­nem Herz­in­farkt und ei­nem schwe­ren Schlag­an­fall schafft sie es, ei­nen Ro­man, den „Braut­preis“ zu schrei­ben. Hier­in liest man: „Herr­lich, dass du we­nigs­tens schrei­ben kannst. Nein, es ist nicht herr­lich, kein biss­chen. Es ist eine ge­wal­ti­ge An­stren­gung. Die dau­ern­de Furcht, es nicht mehr zu kön­nen. „11
In die­sem Buch ent­deckt die Weil ein neu­es The­ma für sich, steigt sie tief hin­ab in die jü­di­sche Ge­schich­te; sie, die nie­mals eine jü­di­sche, nur eine deut­sche Iden­ti­tät in sich ent­de­cken konn­te, wird hier zu Mi­ch­al, Toch­ter des Kö­nigs Saul und ers­te Frau Kö­nig Da­vids, auch sie nun eine alte Frau, die ihr lan­ges kum­mer­vol­les Le­ben be­rich­tet. Dann aber spricht auch wie­der die Au­torin selbst: Ein Dia­log über die Zei­ten hin­weg, zwi­schen ei­ner Jü­din am An­fang und ei­ner am Ende der Ge­schich­te. „3000 Jah­re lie­gen da­zwi­schen. Eine lan­ge Zeit zur Ein­sicht, doch ge­än­dert hat sich nicht viel.“12

Zum ersten Mal in Israel

Um ihr Buch schrei­ben zu kön­nen, ist sie, die im­mer gern und viel reis­te (bis nach Lad­akh und Ne­pal!), end­lich auch nach Is­ra­el ge­fah­ren, zum ers­ten Mal in ih­rem Le­ben, denn sie hat­te bis­lang wohl im­mer Angst vor ih­ren Emo­tio­nen, eine Angst, die sich dann als un­be­grün­det er­wies. Das Land er­schien ihr fremd, ver­mit­tel­te ihr nicht das Ge­fühl nach Hau­se zu kom­men; wohl aber emp­fand sie eine Zärt­lich­keit für Land und Be­woh­ner und hoff­te, wenn auch zwei­felnd, dass es gut ge­hen möge mit ihnen.
Eine Skep­sis, ge­bo­ren aus leid­vol­ler Er­fah­rung und aus ei­ner leid­vol­len Ge­schich­te voll Blut und Ge­walt, wie sie auch in die­ser Er­zäh­lung be­rich­tet wird. Aber Mi­ch­al, die­se Stim­me aus fer­ner Ver­gan­gen­heit setz­te die Hoff­nung auf eine künf­tig bes­se­re, mensch­li­che­re Welt und ahn­te doch nicht, wel­ches Schick­sal ih­rem Volk noch be­vor­stand. Gre­te, die an­de­re Stim­me, hat die­ses Schick­sal durch­lebt und über­lebt und muss mit die­ser Wun­de le­ben; den­noch ist sie be­reit zu ver­ge­ben. Ein Buch von gros­ser Trau­er und gros­ser Menschlichkeit.

Das Schuldgefühl der Davongekommenen

In den „Spät­fol­gen“ wird dann ein re­si­gnier­ter Ton hör­bar: „Über vier­zig Jah­re lang habe ich mir ein­ge­bil­det ein Zeu­ge zu sein, und das hat mich be­fä­higt so zu le­ben wie ich es ge­tan habe. Ich bin kein Zeu­ge mehr. Ich habe nichts ge­wusst. Wenn ich Pri­mo Levi lese, weiss ich, dass ich mir ein KZ nicht wirk­lich vor­stel­len konn­te. Mei­ne Phan­ta­sie war nicht krank ge­nug.“13
Pri­mo Levi hat sich wie an­de­re, die das KZ über­leb­ten: Jean Amé­ry, Bru­no Bet­tel­heim, Paul Ce­lan spä­ter das Le­ben ge­nom­men, und was schon zu­vor ge­le­gent­lich bei Gre­te Weil an­klang, wird hier noch­mals sehr deut­lich: das Schuld­ge­fühl der Da­von­ge­kom­me­nen ge­gen­über den Op­fern des Nazi-Terrors.
Für den „Braut­preis“ und für ihr Le­bens­werk er­hielt Gre­te Weil 1988 den mit 20’000 DM do­tier­ten Ge­schwis­ter-Scholl-Preis. In ih­rer Dank­re­de er­klär­te sie, die­ser Preis sei der ein­zi­ge, den sie sich im­mer ge­wünscht habe, denn er gel­te nicht nur der Li­te­ra­tur, son­dern auch der Ge­sin­nung, und da glau­be sie ihn im Sin­ne von Hans und So­phie Scholl mit Recht an­neh­men zu dürfen.
„Ich, die Spät­ge­bo­re­ne“, schreibt sie in dem Ro­man, „muss mit dem Wis­sen um Ausch­witz mein Le­ben zu Ende brin­gen, es wird mich quä­len bis zum letz­ten Atem­zug.“14
Aber, auch das sag­te sie ein­mal in ei­nem In­ter­view, has­sen kön­ne sie nicht: „Ich bin wohl eine schlech­te Hasserin.“ ♦

1 Gre­te Weil, Ge­ne­ra­tio­nen, Ro­man, Ber­lin: Volk und Welt, 1985
Gre­te Weil, Mei­ne Schwes­ter An­ti­go­ne, Ro­man, Zürich/Köln: Ben­zi­ger, 1980
3 Gre­te Weil, Ans Ende der Welt, Er­zäh­lung, Ber­lin: Volk und Welt, 1949
4 zi­tiert nach G. Weil, Ans Ende der Welt
Gre­te Weil, Tram­hal­te Beet­ho­ven­stra­at, Ro­man, Wies­ba­den: Li­mes, 1963
6 zi­tiert nach G. Weil, Tram­hal­te Beethovenstraat
7 Gre­te Weil, Hap­py sag­te der On­kel, Wies­ba­den: Li­mes, 1968
8 G. Weil, Antigone
9 G. Weil, Antigone
10 G. Weil, Generationen
11 Gre­te Weil, Der Braut­preis, Ro­man, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1988
12 G. Weil, Der Brautpreis
13 Gre­te Weil, Spät­fol­gen, Er­zäh­lun­gen, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1992
14 G. Weil, Der Brautpreis

(Die­ser Bei­trag von Pe­ter Ah­rendt stammt aus dem Jah­re 1994)


Peter AhrendtPe­ter Ahrendt

Geb 1940 in Penzlin/D, bis 2005 Kon­zern-Be­triebs­prü­fer, Pro­sa-, Ly­rik- und es­say­is­ti­sche Pu­bli­ka­tio­nen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, Mit­glied der Ge­sell­schaft der Arno-Schmidt-Le­ser GASL und der Fritz-Reu­ter-Ge­sell­schaft, lebt in Norderstedt/D

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma „Kriegs­li­te­ra­tur“ auch über die Er­zäh­lung von Mi­chel Berg­mann: Al­les was war

… so­wie zum The­ma Nach­kriegs­zeit über den Ro­man von Vol­ker Kut­scher: Olympia

Ein Kommentar

  1. Vie­len Dank für den Link auf mei­ne Buch­be­sprech­hung von Sima Vais­mans er­schüt­tern­den Be­richt über Auschwitz.
    Lei­der hat sich durch ein ver­se­hent­li­ches Lö­schen mei­nes Ar­ti­kels die In­ter­net­adres­se geändert.
    Zu fin­den ist der Ar­ti­kel nun unter:

    Für eine Link-Än­de­rung wäre ich dankbar.
    Herzlichst,
    Thors­ten Kneuer

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