René Oberholzer: Berg-Short-Storys (Kurzprosa)

Vier “Berg-Storys”

Der Berg

Kenia ist in Afrika. Der Kenia­ner ist in der Schweiz. Die Schweiz ist in der Schweiz. Der Kenia­ner kennt einen Appen­zel­ler. Der Appen­zel­ler schaut jeden Tag den Sän­tis an. Der Kenia­ner schaut jeden Tag den Appen­zel­ler Gür­tel an. Appen­zell ist nicht das Hei­mat­land des Kenia­ners. Appen­zell ist das Hei­mat­land des Sän­tis. Der Kenia­ner trägt ein Glöck­lein an sei­nem Gür­tel. Manch­mal fährt er auf den Sän­tis und sagt den Tou­ris­ten: “Der Sän­tis ist ein hei­li­ger Berg.” Das sagt er auch dem Appen­zel­ler. “Der Sän­tis ist ein hoher Berg”, sagt der Appen­zel­ler. Der Kenia­ner wird nie Appen­zel­ler wer­den. Der Appen­zel­ler wird nie Kenia­ner wer­den. Aber der Sän­tis könnte ein hei­li­ger Berg werden.


Der Kompromiss

Ich bin ein tak­ti­ler Mensch. Wenn ich in die Berge gehe, fasse ich alle Blu­men und Steine an. Die Berge machen mich eupho­risch, dann fasse ich auch meine Frau die ganze Zeit an. Ich könnte sie beim Anblick des Sän­tis, des Kron­bergs oder des Stock­bergs stän­dig berüh­ren. Mei­ner Frau ist das dann oft zu viel. Sie möchte dann ein­fach wan­dern und die Aus­sicht genies­sen. Sie ist ein visu­el­ler Mensch. Irgend­wie tref­fen wir uns beim Wan­dern wie auch im sons­ti­gen Leben nie so rich­tig. Wir haben des­halb beschlos­sen, als Kom­pro­miss die Wan­de­rung wie auch das Leben audi­tiv in Angriff zu nehmen.


Die Überstunden

Neu­lich war ich dem Berg­po­li­zis­ten begeg­net. Mit­ten in der Wand stieg er mir hin­ter­her und fragte mich im Seil, ob ich die Ruhe­zei­ten in der Berg­karte ein­ge­tra­gen hätte. Ich ver­neinte, wor­auf er mir zu ver­ste­hen gab, dass ich jetzt zwei Stun­den Schlaf nach­ho­len müsse, bevor ich wei­ter­klet­tern dürfe. Der Berg­po­li­zist drängte mich an einen Fels­vor­sprung ab, und ich ver­suchte zwei Stun­den im Ste­hen zu schla­fen. Der Berg­po­li­zist stand neben mir und rührte sich nicht von der Stelle. Zwei Stun­den spä­ter hatte das Wet­ter umge­schla­gen, ich durfte wei­ter­klet­tern, der Poli­zist stieg ab und suchte einen wei­te­ren Ruhe­zei­ten­sün­der am Berg. Völ­lig aus­ge­ruht kam ich in der SAC-Hütte an. Der Poli­zist stürzte etwas spä­ter am Berg aus Unvor­sich­tig­keit ab. Weil an die­sem Tag viele Klet­te­rer am Berg unter­wegs gewe­sen waren, hatte der Berg­po­li­zist Über­stun­den schie­ben müssen.


Das Interview

Ich möchte die Geschichte eines Wan­de­res erzäh­len, der immer auf den­sel­ben Berg hin­auf­stieg. “Ich liebe die­sen Berg”, sagte der Mann einem Jour­na­lis­ten, “kei­ner ist so schön wie die­ser.” Als er wei­ters gefragt wurde, warum er nicht auch noch auf andere Berge steige, sagte der Mann: “Ich bin schon seit 40 Jah­ren mit der­sel­ben Frau ver­hei­ra­tet. Ver­ste­hen Sie?” Der Jour­na­list schaute den Mann lange an, sagte dann: “Ja, ich ver­stehe Sie.” Dann rief der Jour­na­list seine Lebens­ge­fähr­tin an und sagte: “Ich möchte mit Dir wie­der ein­mal aufs Hörnli wandern.”


Rene Oberholzer - Schweizer Autor - Glarean MagazinRené Ober­hol­zer

Geb. 1963 in St. Gallen/Schweiz, schreibt seit 1986 Lyrik, seit 1991 auch Prosa, lebt und arbei­tet als Sekun­dar­leh­rer, Autor und Per­for­mer in Wil/Schweiz

Lesen Sie im Glarean Maga­zin auch das Inter­view mit Rene Oberholzer

… sowie zwei Kurz­prosa-Stü­cke von Daniel Mylow: Giraffe & Passagen

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