Karlheinz Barwasser: Bildgebende Methode (Kurzprosa)

Bildgebende Methode

Karl­heinz Barwasser

1. Herr Grün­baum be­grüsst sei­ne neu­ge­bo­re­ne Toch­ter (1965) / Nur eine Fol­ge ver­wisch­ter Bil­der, als hät­te der Fo­to­graf, da­mit Kunst ins Spiel kommt, eine zu lan­ge Be­lich­tungs­zeit ge­wählt: dunk­les, dich­tes Haar und kla­re Au­gen: das Baby mit hel­lem Kör­per, nackt, dazu Herrn Grün­baums Hän­de, die eine Hand strei­chelt des Säug­lings Bauch, die an­de­re um­fasst stüt­zend sei­nen Rü­cken. Es sind fünf Bil­der, ohne ir­gend ei­nen spek­ta­ku­lä­ren Be­we­gungs­ab­lauf, nur vier, fünf ru­hi­ge Se­kun­den in Ab­fol­ge: im­mer die Hän­de, und zu den Rän­dern hin dann die haa­ri­gen Arme.

2. Herr Grün­baum hat sei­ne Toch­ter von der Schu­le ab­ge­holt (1972) / Letzt­lich nur ein ver­wend­ba­res Foto: man sieht die Män­ner­lip­pen, dar­über die ge­schlos­se­nen Au­gen­li­der mit dunk­len, leicht ge­schwun­ge­nen Wim­pern, die ge­krümm­te Nase, ei­nen Teil des gros­sen lin­ken Ohrs. Das Bild ist scharf und klar, wie ein­ge­meis­selt in die Fo­to­schicht: die glän­zen­de Näs­se auf den Män­ner­lip­pen, der halb ge­öff­ne­te Mund, die Zun­ge, die zur Hälf­te im Mund des Kin­des, das sei­ne Au­gen ge­schlos­sen hält, steckt, die lin­ke Män­ner­hand um­schliesst den Kopf des Mäd­chens und presst mit dem Dau­men so fest ge­gen sei­ne Schlä­fe, als sol­le der Herz­schlag des Kin­des in den an­de­ren Kör­per wech­seln: die Lip­pen, die Zun­ge, der nas­se Kuss: in der Be­klem­mung das Schwei­gen und der Schre­cken und die Be­stür­zung, ge­heim. Als könn­te man den Spei­chel flies­sen se­hen aus die­sem Foto: Ver­dau­ungs­en­zy­me für kom­men­de Jahre.

3. Frau Grün­baum hat ih­ren Va­ter fo­to­gra­fiert (2006) / Auf Fo­to­pa­pier mit bril­lan­tem Kon­trast: al­lein der Män­ner­kör­per, der hin­ten­über ge­kippt liegt: ein Ir­ri­ta­ti­ons­mo­ment in dunk­len, schwe­ren Far­ben, eine nicht auf­lös­ba­re Ver­wir­rung in vie­len Schich­ten: der alte Mann, der da­liegt und den Be­trach­ter ah­nen lässt, dass die Ge­mein­sam­kei­ten doch we­ni­ger wa­ren als die Un­ter­schie­de: so liegt ein Kopf mit ei­nem Mund, eine ge­rutsch­te Hose: ein lä­cher­lich ver­dreh­ter Klum­pen. Und wenn Frau Grün­baum auf­wacht, kom­men neue Bil­der, strö­men, wech­seln, ge­ben sich ein­an­der die Hand, alte Bil­der, neue, exis­tie­ren­de und nicht exis­tie­ren­de: und vie­le kön­nen noch entstehen.

4. Frau Grün­baum  hat sich Ta­tar mit Ei­gelb, Ka­pern und Zwie­beln zu­be­rei­tet (2009) / Be­vor sie isst, nimmt sie die Ka­me­ra und macht ein Bild vom Kü­chen­tisch: dar­auf sieht man noch den Fleisch­wolf, des­sen glän­zen­des Guss­ei­sen das Blitz­licht re­flek­tiert. Das Foto ist ziem­lich überstrahlt. ♦


Karl­heinz BarwasserKarlheinz Barwasser

Geb. 1950 in Paderborn/D, zahl­rei­che Pro­sa-, Ly­rik- und es­say­is­ti­sche Pu­bli­ka­tio­nen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, um­fang­rei­che Tä­tig­keit als Hör­spiel- und Fea­ture-Au­tor für den Rund­funk, Trä­ger di­ver­sers Li­te­ra­tur­prei­se, lebt als Schrift­stel­ler in München

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