Nils Günther: Der Gemeine Orchesterdirigent (Satire)

Der Gemeine Orchesterdirigent

Nils Gün­ther

Geschätzte Zuhö­re­rin­nen und Zuhörer!

In unse­rer musik­zoo­lo­gi­schen Vor­trags­reihe “Die Unter­welt der Musik” wol­len wir uns heute einer beson­ders ver­brei­te­ten, aber auch sehr inter­es­san­ten und in wei­ten Tei­len noch uner­forsch­ten Spe­zies zuwen­den: dem Gemei­nen Orchesterdirigenten.
Zunächst soll­ten wir den Gegen­stand unse­rer Betrach­tun­gen ein­mal defi­nie­ren, denn obwohl den Gemei­nen Orches­ter­di­ri­gen­ten jeder kennt, ja wahr­schein­lich viele von Ihnen sel­ber den einen oder ande­ren davon im Plat­ten­re­gal ste­hen hat, stel­len wir uns mal ganz dumm und fra­gen: Was ist ein Dirigent?

Dirigent Richard Wagner erstürmt den Himmel (Zeitgenössische Karikatur)
Diri­gent Richard Wag­ner erstürmt den Him­mel (Zeit­ge­nös­si­sche Karikatur)

Hierzu muss man in der His­to­rie recht weit zurück­ge­hen, eigent­lich in die graue Vor­zeit, an jenen Punkt, wo einer aus der Herde das Maul beson­ders weit auf­riss und sich dadurch zum Leit­ham­mel machte. Dass dafür das Mau­lauf­reis­sen aller­dings nicht lange reichte, kann man sich vor­stel­len; Argu­mente allein hat­ten noch sel­ten ewig Bestand. Daher war es nütz­lich, sich durch­aus phy­si­scher Gewalt zu bedie­nen, etwa indem man einen gros­sen Knüp­pel nahm und alles, was auf­müp­fig war ein­fach niederschlug.
Aus eben die­ser Figur des Leit­ham­mels ent­wi­ckel­ten sich meh­rere bis in die heu­tige Zeit exis­tente Tätig­kei­ten, die alle mit Macht­po­si­tio­nen zu tun haben. Der Poli­ti­ker, der Boxer, der Zahn­arzt und der Diri­gent: sie alle haben ihre Wur­zeln im prä­his­to­ri­schen Knüp­pel­schwin­ger, nur dass die Knüp­pel im Laufe der Evo­lu­tion extrem ver­küm­mert oder über­haupt zu rein geis­ti­gen gewor­den sind. Beim Diri­gen­ten ist die­ser letzte Rest des Knüp­pels aber in Form eines klei­nen Stäb­chens noch gut zu erken­nen, auch wenn sich die Funk­tion sei­ner Keule ein wenig gewan­delt hat. Sie wird nicht mehr zum direk­ten Prü­geln benutzt, letz­te­res wird viel­mehr bloss noch ange­deu­tet; der Diri­gent “gibt den Takt an”, wie man sagt. (Ob er viel mehr tut, ist von der Wis­sen­schaft noch nicht end­gül­tig geklärt).
Diverse Sagen ran­ken sich um einige beson­ders heroi­sche Diri­gen­ten der Ver­gan­gen­heit. So erzählt man sich heute noch vol­ler Erschau­ern die Geschichte von Lully, der sich mit sei­nem (damals noch durch­aus knüp­pel­haf­ten) Stab den Fuss rammte und kurz dar­auf ver­schied. Ein Sui­zid der beson­de­ren Art!

Dirigent Benjamin Bilses bestrickende Leitung (Zeitgenössische Karikatur)
Diri­gent Ben­ja­min Bil­ses bestri­ckende Lei­tung (Zeit­ge­nös­si­sche Karikatur)

Doch diese heroi­schen Zei­ten sind eigent­lich vor­bei, heute scheuen die meis­ten Diri­gen­ten das Risiko, und kaum einer würde mehr selbst ein sol­ches Opfer für die Kunst brin­gen. Nein, heute geht es dem Diri­gen­ten in ers­ter Linie darum, dem Kom­po­nis­ten zu zei­gen, was eine Harke ist. Wedelnd steht der Diri­gent an sei­nem Pult und fuch­telt alle ihm unter­ge­be­nen Musi­ker in die Knie. Selbst bei Mes­sen und ande­ren geist­li­chen Wer­ken hat der Diri­gent keine Skru­pel, statt Andacht das blanke Stäb­chen wal­ten zu las­sen. Das Werk hat vor dem Maes­tro zu erzit­tern, nicht etwa umge­kehrt! Was man hört ist nicht Mozart oder Beet­ho­ven, son­dern Bern­stein oder Celibidache.
Der Diri­gent muss nur die Auf- und Abwärts­be­we­gung des Sta­bes erler­nen, nichts wei­ter. Zäh­len kann das Orches­ter allein, und zwar gut genug, um sich nicht durch das unrhyth­mi­sche Gefuch­tel aus der Ruhe brin­gen zu las­sen. Gewiefte Diri­gen­ten brin­gen es zustande, mit der freien Hand eben­falls Bewe­gun­gen aus­zu­füh­ren. Sol­che Wun­der­kna­ben sind rar, und der tosende Applaus ist ihnen gewiss. Schliess­lich ist das so, als ob ein dres­sier­ter Affe gleich­zei­tig eine Banane isst und sich mit dem lin­ken Fuss am Kopf kratzt. Vor sol­cher­lei Lau­nen der Natur hatte der Pöbel schon seit jeher Respekt. Zu Recht.
Der Weg zum Diri­gen­ten­da­sein führt also über meh­rere Sta­tio­nen. Zunächst muss man eini­ges an Fein­mo­to­rik mit­brin­gen, um über­haupt ein Stäb­chen koor­di­niert bewe­gen zu kön­nen. Nicht nur muss das Holz­stück auf und ab bewegt, nein, es muss dabei auch fest genug gehal­ten wer­den, so dass es nicht ver­se­hent­lich aus der Hand fällt. Einem ange­hen­den Maes­tro wer­den in der ers­ten Pro­be­phase denn auch diverse Unfälle nicht erspart blei­ben, von aus­ge­sto­che­nen Augen über tote Haus­tiere und zer­störte Por­zel­lan­samm­lun­gen bis hin zu unab­sicht­lich kas­trier­ten Schul­freun­den. Ist diese Klippe nach Jah­ren zer­mür­bern­den Trai­nings umschifft, muss sich der Diri­gent einige fei­nere Eigen­schaf­ten antrai­nie­ren wie Arro­ganz, Geld­gier, Ober­fläch­lich­keit und Nar­ziss­mus. Man­che haben dar­über hin­aus eine rudi­men­täre musi­ka­li­sche Grund­aus­bil­dung, doch dar­auf kann man sich nicht verlassen.

Dirigent Gustav Mahlers Kakaphonie (Zeitgenössische Karikatur)
Diri­gent Gus­tav Mahlers Kakap­ho­nie (Zeit­ge­nös­si­sche Karikatur)

In aller Regel muss man zufrie­den sein, wenn der Diri­gent weiss, in wel­che Rich­tung er zu bli­cken hat. (Für gewöhn­lich hat er ja einen Hand­lan­ger, der sich Kon­zert­meis­ter nennt. Die­ser schüt­telt dem Diri­gen­ten immer wie­der die Hand, damit der Maes­tro seine Posi­tion wie­der rich­tig ein­nimmt, und auch, damit sich die um das Stäb­chen gekrampfte Hand wie­der etwas ent­span­nen kann). Intel­li­gen­tere Exem­plare der Spe­zies sind zudem in der Lage, blitz­schnell ihre Posi­tion durch eine Dre­hung um 180 Grad zu ver­än­dern, um sich gekonnt zum Publi­kum hin zu ver­beu­gen. Eini­gen von ihnen gelingt es sogar, sich anschlies­send wie­der mit kat­zen­ar­ti­ger Behen­dig­keit in die Aus­gangs­lage zurück zu bewe­gen. Doch das ist ange­bo­re­nes Genie, wel­ches sich dem Nor­mal­sterb­li­chen nur schwer erschliesst.
Ein wei­te­res bedeu­tungs­vol­les Moment kommt hinzu: die Mimik. Sie ist die wahre Kunst des Diri­gen­ten. So kann man es etwa bei Lorin Maa­zel beob­ach­ten, der mit sei­nem Blick unmiss­ver­ständ­lich zu ver­ste­hen gibt, dass er nicht nur alle Musi­ker und das Publi­kum, son­dern auch die Musik selbst abgrund­tief ver­ach­tet und nur dort dro­ben auf dem Podest steht, weil der Taxa­me­ter tickt und ihm den neuen Swim­ming­pool als sicher finan­ziert verspricht.

Dirigent Carl Rosa beim Geldverdienen (Zeitgenössische Karikatur)
Diri­gent Carl Rosa beim Geld­ver­die­nen (Zeit­ge­nös­si­sche Karikatur)

Der Diri­gent ist in der glück­li­chen Lage, das meiste Geld zu ver­die­nen und dafür am wenigs­ten tun zu müs­sen. Er muss in der Regel nur einen Auf­takt schla­gen, danach läuft die Sache quasi von selbst. Üben kann der Diri­gent in sei­nem Ses­sel zu Hause mit einem fei­nen Glas Cognac in der einen Hand und der Par­ti­tur in der ande­ren. Lesen kann er sie gröss­ten­teils nicht, und so ver­bringt er die Zeit damit, die schwar­zen Punkte mit einem Bunt­stift zu ver­bin­den und sich von den ent­ste­hen­den Bil­dern über­ra­schen zu lassen.
Es ist natür­lich nicht ver­kehrt, wenn der Diri­gent den Schluss der Kom­po­si­tion nicht ver­passt. Danach wei­ter­zu­schla­gen wäre nicht von Vor­teil. Denn der gebil­dete Diri­gent weiss, dass der Schluss in 90 Pro­zent aller Fälle laut und immer von Stille gefolgt ist. Diese Stille muss schnell genug wahr­ge­nom­men wer­den, was schon schwie­ri­ger ist, da es zur ver­bind­li­chen Natur eines Diri­gen­ten gehört, maxi­mal zehn Pro­zent Hör­fä­hig­keit zu besit­zen. Aber der wahre Künst­ler hat es halt im Blut und wird blitz­schnell reagie­ren, den Atem anhal­ten und erstar­ren, sich kurz dar­auf mit einem Nicken umdre­hen und erleich­tert sein, wenn tat­säch­lich geklatscht wird und er nicht doch ein­fach bei der Gene­ral­pause auf­ge­hört hat. Aber da ste­hen die Chan­cen fity-fifty, da kennt die wahre Spie­ler­na­tur gar nichts.
Ansons­ten muss der Diri­gent noch ein Auto­gramm geben kön­nen und einen Plat­ten­ver­trag unter­schrei­ben, den Rest macht sein Assistent.
Der­zeit wird die Diri­gen­ten­tä­tig­keit für sehr viele arbeits­lose Flei­scher und Poli­zis­ten inter­es­sant, doch nur wenige wagen einen sol­chen beruf­li­chen Abstieg tat­säch­lich, viele wer­den wegen Über­qua­li­fi­ka­tion auch gar nicht von den Orches­tern ange­nom­men. – Meine Damen und Her­ren, ich hoffe, Ihnen einen Ein­blick in die so fas­zi­nie­rende Welt des auf allen Kon­ti­nen­ten hei­mi­schen, aber immer noch rät­sel­haf­ten Gemei­nen Orches­ter­di­ri­gen­ten gege­ben zu haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! ♦


Nils Günther Nils Gün­ther

Geb. 1973 in Scherzingen/CH, Kla­vier- und Kom­po­si­ti­ons-Stu­dium in Ber­lin und Win­ter­thur, zahl­rei­che kom­po­si­to­ri­sche Ver­öf­fentlichun­gen und Radio-Auf­nah­men, lebt seit 1999 als Kom­po­nist in Berlin

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Peter Androsch: „Mozart?“ – Ein Pamphlet

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