Arnold Leifert: Wozu Literatur? (Essay)

Der literarische Text als Geschehnis

Arnold Leifert

Wozu Li­te­ra­tur?“- Was denn ver­steht der Fra­gen­de un­ter „Li­te­ra­tur“?1) Und selbst wenn mit dem Stich­wort „Bel­le­tris­tik“ ge­ant­wor­tet wird – dies ist be­ru­hi­gend, denn für alle an­de­re, pri­mär und nur un­ter­hal­ten­de, viel­leicht auch tri­via­le Li­te­ra­tur be­ant­wor­tet sich die Fra­ge selbst, – „Bel­le­tris­tik“ also, poe­ti­sche und pro­sa­ische Li­te­ra­tur: Der Ro­man, die No­vel­le, die kur­zen For­men der mo­der­nen Pro­sa, das Dra­ma, das Hör­spiel, das Gedicht…
Auf den ers­ten Blick könn­te man ver­sucht sein, für die ver­schie­de­nen Gat­tun­gen auch ver­schie­de­ne Ant­wor­ten fin­den zu wol­len. Al­lein: in der deut­schen Li­te­ra­tur von 1945 bis heu­te ver­wei­gern sich alle Gat­tun­gen die­ser Fra­ge, und be­ken­nen sich zu­gleich eben­so alle zu die­ser Fra­ge: „Wozu?“

Wo­nach aber fragt die­se Fra­ge? Nach dem Selbst­ver­ständ­nis des Au­tors, im Sin­ne ei­ner ihn trei­ben­den Ziel­set­zung, In­ten­ti­on, gar Ab­sicht der (Welt-)Veränderung? Oder ist sie ge­stellt aus der Über­schau-Sicht des His­to­ri­kers und Li­te­ra­tur-Theo­re­ti­kers, der die Wir­kungs­ge­schich­te ein­zel­ner Wer­ke oder Epo­chen im nach­hin­ein und de fac­to ver­sucht aufzuspüren?

Ich schreibe für mich selbst!“

Arnold Leifert: "Literatur – mit ihrem Sitz genau zwischen Denken und Fühlen – geschieht als vielleicht höchste Form der sprachlichen Kommunikation"
Ar­nold Lei­fert: „Li­te­ra­tur – mit ih­rem Sitz ge­nau zwi­schen Den­ken und Füh­len – ge­schieht als viel­leicht höchs­te Form der sprach­li­chen Kommunikation“

Wozu Li­te­ra­tur? – Gram­ma­ti­ka­lisch sug­ge­riert dies eine Aus­kunft über den „Zweck“ die­ses et­was „ver­däch­tig nutz­lo­sen Un­ter­fan­gens“ na­mens Li­te­ra­tur. Und heu­te die­se Fra­ge zu stel­len, in ei­ner Zeit per­vers auf die Spit­ze ge­trie­be­nen, tech­no­kra­ti­schen wie ma­te­ria­lis­ti­schen Zweck­an­sin­nens an al­les mensch­li­che Tun, scheint tat­säch­lich pro­vo­kant not­wen­dig. Die Zy­ni­ker un­ter den „Rea­lis­ten“ und Ma­chern in un­se­rer heu­ti­gen li­te­ra­ri­schen Welt ha­ben die Fra­ge längst in ih­rem mer­kan­ti­len Sin­ne be­ant­wor­tet: Der Li­te­ra­tur­be­trieb, die gros­sen Ver­la­ge le­ben von der „gros­sen Auf­la­ge“; ein Buch, das sich eig­net, wird „ge­macht“, die Kas­se stimmt, der „Zweck“ ist er­füllt. Eine nicht zu un­ter­schät­zen­de Ent­wick­lung; denn schon heu­te be­ginnt die­ser markt­ori­en­tier­te Um­gang mit Li­te­ra­tur das ei­gent­li­che Bild un­se­rer li­te­ra­ri­schen Jah­re nach­hal­tig zu ver­zer­ren und zu verschleiern.
Im­mer wie­der kann man in In­ter­views, Ge­sprä­chen, poe­to­lo­gi­schen Ex­kur­sen usw. er­le­ben, dass – und es sind wahr­schein­lich die meis­ten von ih­nen – die Au­toren al­ler Gat­tun­gen, wenn sie ge­fragt wer­den: „Zu wel­chem Zweck schrei­ben Sie? Glau­ben Sie, mit Li­te­ra­tur ge­sell­schaft­lich et­was ver­än­dern zu kön­nen?“, die­se Fra­ge ver­nei­nen: „Zu­nächst schrei­be ich für mich selbst! Über die Wir­kungs­lo­sig­keit von Li­te­ra­tur ma­che ich mir kei­ne Illusionen!“
Dass bei die­sen Ant­wor­ten den­noch auch heu­ti­gen Au­toren die­se Fra­ge im­mer wie­der ge­stellt wird, er­klärt sich wahr­schein­lich aus der Ent­wick­lung der deut­schen Nach­kriegs­li­te­ra­tur selbst. Sah es in ihr – und ei­ni­ge kur­ze Jah­re so­gar ganz ent­schie­den – doch ei­gent­lich so aus, als gin­gen eine gan­ze Rei­he von Li­te­ra­ten durch­aus von so et­was wie ei­ner po­li­ti­schen In­ten­ti­on beim Schrei­ben aus.

Literatur als Tendenz, in die Zeit zu wirken

Erst Zeitschrift für Dichtung, dann Zeitschrift für Literatur: Hans Benders "Akzente"
Erst Zeit­schrift für Dich­tung, dann Zeit­schrift für Li­te­ra­tur: Hans Ben­ders „Ak­zen­te

Si­cher­lich ist es nicht zu­fäl­lig, dass aus­ge­rech­net im Jahr 1968 der von da an al­lei­ni­ge Her­aus­ge­ber der wich­tigs­ten deut­schen Li­te­ra­tur­zeit­schrift, Hans Ben­der, den „Ak­zen­ten“ ei­nen neu­en Un­ter­ti­tel gab. Hat­te sie von ih­rer Grün­dung 1954 bis 6/67 „Zeit­schrift für Dich­tung“ ge­heis­sen, hiess sie nun „Zeit­schrift für Li­te­ra­tur“. Ben­der for­mu­lier­te als Be­grün­dung u.a.: „Li­te­ra­tur ist […] der wei­te­re Be­griff […] Wei­ter, weil Li­te­ra­tur die Ten­denz, in die Zeit wir­ken zu wol­len, nicht ver­neint, son­dern be­jaht“ (Hans Ben­der: An die Le­ser, Ak­zen­te 1/68).
Fünf Jah­re spä­ter sieht Ben­der sich in der Ein­schät­zung die­ser Ten­denz be­stä­tigt und schreibt im ers­ten Heft des 20. Jahr­gangs: „Heu­te gibt es kaum noch ei­nen Wi­der­spruch, wenn nach­ge­wie­sen wird, wo­durch die west­deut­sche Li­te­ra­tur in den letz­ten Jah­ren mehr Be­ach­tung und Wirk­sam­keit er­zielt hat. Vor al­lem doch durch die Mit­spra­che in der po­li­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung“ (H. Ben­der: Von der Dich­tung zur Li­te­ra­tur, Ak­zen­te 1-2/73).
Ge­meint wa­ren da­mit si­cher­lich nicht al­lein, aber vor al­lem die Au­toren der ers­ten Ge­ne­ra­ti­on der „Grup­pe 47“. The­men und Stof­fe der Aus­ein­an­der­set­zung mit er­leb­tem Fa­schis­mus und Krieg, dann aber zu­neh­mend Kri­tik an der ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lung der neu­en Re­pu­blik. Wich­tig in un­serm Zu­sam­men­hang: Die neu­en deut­schen Au­toren hat­ten ih­ren Weg ge­fun­den von der apo­li­ti­schen, zu­rück­ge­zo­ge­nen Dich­tungs­tra­di­ti­on hin zur Li­te­ra­tur der po­li­ti­schen Einmischung.

Das gesellschaftspolitisch orientierte „Wozu Literatur?“

Ein deut­lich er­kenn­ba­res, ge­sell­schafts­po­li­tisch ori­en­tier­tes „Wozu?“ war Be­kennt­nis für li­te­ra­ri­sches Ar­bei­ten. Heinz Lud­wig Ar­nold poin­tiert: „So war die Grup­pe 47 auch eine mo­ra­li­sche In­sti­tu­ti­on, nicht nur eine li­te­ra­ri­sche Cli­que“ (H. L. Ar­nold: Die drei Sprün­ge der west­deut­schen Li­te­ra­tur, Ak­zen­te 1-2/1993). Brei­te Über­ein­stim­mung im Selbst-Ver­ständ­nis und in der For­mu-lie­rung neu­er Auf­ga­ben zeit­ein­ge­bun­de­ner Li­te­ra­tur. Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger 1962: „Des­halb hal­te ich da­für, dass die kri­ti­sche Po­si­ti­on un­teil­bar ist. Sie hat nicht Be­wäl­ti­gung oder Ag­gres­si­on im Sinn; Kri­tik, wie sie hier ver­sucht wird, will ihre Ge­gen­stän­de nicht ab­fer­ti­gen oder li­qui­die­ren, son­dern dem zwei­ten Blick aus­set­zen: Re­vi­si­on, nicht Re­vo­lu­ti­on ist ihre Ab­sicht“ (H. M. En­zens­ber­ger: Ein­zel­hei­ten, Frankfurt/Main 1962).
Die ra­di­kals­te Zu­spit­zung al­ler­dings er­fuhr die­ses Wozu?-Bekenntnis schon wei­te­re fünf Jah­re spä­ter, als der glei­che H. M. En­zens­ber­ger mit Be­ginn der Stu­den­ten­pro­tes­te ge­ra­de die­sen re­vi­sio­nis­ti­schen An­satz geis­selt und als Ge­bot der Stun­de 1967 for­mu­liert: „Tat­säch­lich sind wir heu­te nicht dem Kom­mu­nis­mus kon­fron­tiert, son­dern der Re­vo­lu­ti­on. Das po­li­ti­sche Sys­tem in der Bun­des­re­pu­blik lässt sich nicht mehr re­pa­rie­ren. Wir kön­nen ihm zu­stim­men, oder wir müs­sen es durch ein neu­es Sys­tem er­set­zen. Ter­ti­um non dab­itur. Nicht die Schrift­stel­ler ha­ben die Al­ter­na­ti­ve auf die­ses Ex­trem be­grenzt; im Ge­gen­teil, seit 20 Jah­ren be­mü­hen sie sich, das zu ver­mei­den. Die Macht des Staa­tes selbst sorgt da­für, dass die Re­vo­lu­ti­on nicht nur not­wen­dig wird (sie wäre 1945 not­wen­dig ge­we­sen), son­dern auch denk­bar“ (H. M. En­zens­ber­ger: Schrift­stel­ler und Po­li­tik, Times Li­te­ra­ry Sup­ple­ment, 1967).

Von der Gruppe 61 bis zur Wiener Schule

"Eine zivilisatorische Notwendigkeit": Die Studenten-Revolte von 1968
„Eine zi­vi­li­sa­to­ri­sche Not­wen­dig­keit“ (En­zens­ber­ger): Die Stu­den­ten-Re­vol­te von 1968

Eine gan­ze Ge­ne­ra­ti­on da­mals be­gin­nen­der jun­ger Au­toren – nicht zu­letzt im Kreis auch um Erich Fried – nahm die­sen Auf­ruf zum ei­ge­nen Pro­gramm: Li­te­ra­tur muss­te vor al­lem po­li­tisch re­le­vant sein! Eine fast un­über­seh­ba­re Men­ge – auch klei­ner und kleins­ter – Li­te­ra­tur­zeit­schrif­ten aus die­ser Zeit zeugt da­von. Und es ent­stand eine Tra­di­ti­on po­li­ti­scher Li­te­ra­tur, die – bei al­len noch so un­ter­schied­li­chen for­ma­len und in­halt­li­chen Aus­for­mun­gen – bis heu­te an­ge­hal­ten hat. Von der „Grup­pe 61“ über Werk­kreis-Li­te­ra­tur, Re­por­ta­ge-Li­te­ra­tur, die po­li­ti­sche Ly­rik mit ih­rem brei­ten Spek­trum, das po­li­ti­sche Lied, das Dra­ma, bis zur Aus­ein­an­der­set­zung mit der deutsch-deut­schen Pro­ble­ma­tik bei DDR- und BRD-Au­toren und hin zu den jüngs­ten Jah­ren li­te­ra­ri­scher Ar­bei­ten über die bei­den deut­schen Ge­sell­schaf­ten und ihre Wie­der­ver­ei­ni­gung. Dass da­ne­ben ge­ra­de auch seit „68“ eine zwei­te li­te­ra­ri­sche Strö­mung – apo­li­ti­scher, for­ma­lis­ti­scher, bis hin zu kon­kre­ter Poe­sie und Wie­ner Schu­le – ent­steht und an Be­deu­tung ge­winnt, sei hier nur angemerkt.
Das an­fangs ge­frag­te „Wozu?“, so­mit von sei­ten der „Au­toren­in­ten­ti­on“ be­ant­wor­tet, – in der glei­chen ge­schicht­li­chen Ent­wick­lung be­ginnt auch die Ant­wort auf die Fra­ge nach dem „Wozu?“ im Sin­ne ei­ner tat­säch­li­chen „Wir­kung“ von Li­te­ra­tur, fin­det sich hier doch – zu­min­dest für die deut­sche Nach­kriegs­ge­schich­te – ein kaum wi­der­spro­che­nes Bei­spiel für die ge­sell­schaft­li­che Wir­kung (auch) von Literatur.

Literatur-Revolte als gedroschene Phrasen

Hans-Dieter Gelfert: Was ist gute Literatur? - Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet - beck'sche reihe
An­zei­ge

Noch ein­mal sei H. M. En­zens­ber­ger zi­tiert. Denn wenn er auch 1995 im Ge­spräch mit An­dré Mül­ler sei­ne ei­ge­nen Auf­ru­fe von 1968 als „ge­dro­sche­ne Phra­sen“ ent­larvt, ein his­to­ri­sches Er­geb­nis der da­ma­li­gen eman­zi­pa­to­ri­schen Be­we­gung bleibt ihm: „Die Stu­den­ten­re­vol­te war zi­vi­li­sa­to­risch eine Not­wen­dig­keit […] Sie kön­nen doch nicht weg­dis­ku­tie­ren, dass die Men­schen in die­sem Lan­de heu­te ein ganz an­de­res Selbst­be­wusst­sein als da­mals ha­ben. […] Die fünf­zi­ger Jah­re […] muf­fig, re­ak­tio­när. Nichts hat sich be­wegt […] 1968 ging es dar­um, eine au­to­ri­täts­fi­xier­te Ge­sell­schaft in eine mehr de­mo­kra­ti­sche zu ver­wan­deln. […] Die Bun­des­re­pu­blik, wie wir sie heu­te ken­nen, ist doch da­mals über­haupt erst ent­stan­den […] Der Ob­rig­keits­staat exis­tiert nicht mehr. Den hat­ten wir aber.“ (H. M. En­zens­ber­ger / A. Mül­ler, Die Zeit Nr. 4/20, 1995).
Man mag En­zens­ber­ger in die­ser Wer­tung zu­stim­men oder nicht, die Ver­än­de­rung – ins­be­son­de­re im Um­gang mit Au­to­ri­tät – ist nicht zu leug­nen. Und so, wie die stu­den­ti­sche Re­vol­te nicht zu tren­nen ist von der sie be­glei­ten­den, mit vor­wärts trei­ben­den, ihr kul­tu­rel­les Fun­da­ment ge­ben­den und sie fort­füh­ren­den ver­schie­den­ar­tigs­ten Li­te­ra­tur, so ist eben­so kaum zu er­for­schen, wel­chen An­teil an die­sem Eman­zi­pa­ti­ons­schub (in Kopf und Her­zen der Men­schen) nun De­mons­tra­tio­nen und Ak­tio­nen und wel­chen die Li­te­ra­tur hat­te und hat, mit ih­ren man­nig­fal­ti­gen Er­schei­nungs- und Ver­an­stal­tungs­for­men. Dass Li­te­ra­tur mit-ver­än­dert hat, wird nicht zu wi­der­le­gen sein.


Exkurs: Das Lyrische Ich

Aber viel­leicht soll­ten wir von so­ge­nann­ter „po­li­ti­scher Li­te­ra­tur“ ein­mal ganz absehen:

DU

am Mor­gen danach
hüp­fe ich
von Pflasterstein
zu Pflasterstein
und kei­ner sieht es

Die Fra­ge „Wozu Li­te­ra­tur?“ wur­de an das vor­ste­hen­de, über jede po­li­ti­sche Ab­sicht er­ha­be­ne, klei­ne Ge­dicht nie­mals ge­stellt. Wohl aber sehr vie­le an­de­re, ver­schie­dens­te Fra­gen wur­den sei­net­we­gen an den Au­tor ge­rich­tet, bei den un­ter­schied­lichs­ten An­läs­sen. Fra­gen, die, in­dem sie von Zu­hö­rern und Le­sern ge­stellt wur­den, auch dem Au­tor die­ses auf­fäl­lig klein­ge­ra­te­ne Kind sei­ner selbst von Mal zu Mal näherbrachten.
Ur­sprüng­lich we­gen Zwerg­wuch­ses und viel­leicht doch zu auf­fäl­li­gen Un­ter­ge­wichts gar nicht erst ins Ma­nu­skript ei­nes neu­en Ly­rik­ban­des auf­ge­nom­men, tauch­te es ganz plötz­lich aus der Sen­dung an den Li­te­ra­tur­re­dak­teur ei­ner Zeit­schrift wie­der auf, wur­de brief­lich ge­strei­chelt und fand so Ein­gang in die neue Samm­lung. Dann schliess­lich, von dem Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Tho­mas Blei­cher in ei­nem öf­fent­li­chen Vor­trag als „ei­nes der we­ni­gen po­si­ti­ven Lie­bes­ge­dich­te der 80er Jah­re“ be­zeich­net, be­haup­te­te es sich schnell im Ka­non des Ban­des wie bei Le­sun­gen. „Sie sollten’s als Post­kar­te dru­cken, da­mit man’s schnell bei der Hand hat, schnell ver­schi­cken kann, wenn die Nacht so war und der Mor­gen so ist!“, schlug man dem Au­tor vor.
„Aber sa­gen Sie mal: Ich habe das ges­tern abend noch mal ge­le­sen, habe mir heut die Pflas­ter­stei­ne auf der Stras­se an­ge­se­hen, die lie­gen doch recht eng bei­ein­an­der!“ Auf die et­was hilf­lo­se Ge­gen­fra­ge des Au­tors: „Hät­te ich ’von Plat­te zu Plat­te’ sa­gen sol­len?“, hilft ein Zu­hö­rer: „Na also, dann über­springt er eben meh­re­re Pflas­ter­stei­ne da­zwi­schen; wie vie­le, das hängt dann da­von ab, was in der Nacht ge­schah! In je­dem Fall ist et­was Schö­nes pas­siert. Das Ge­dicht strahlt Freu­de aus!“
„Heim­li­che Freu­de!? Es ist so et­was heim­lich Ver­schmitz­tes dar­in. Ich kann mir bei­des vor­stel­len: Also der (oder ei­gent­lich auch die) auf dem Heim­weg am Mor­gen ist al­lein auf sei­nem Weg und hüpft wirk­lich, wie ein Tan­zen aus Freu­de, oder er/sie geht zwi­schen vie­len Men­schen zum Bahn­hof z.B. und hüpft in­ner­lich, ‚und kei­ner sieht es‘.“
„Ist Ih­nen das so pas­siert? Es hat so et­was un­ge­heu­er Vi­ta­les, fast ein Plat­zen vor Freude!“
„Das geht mir zu weit. Ihr scheint alle nur von dem ei­nen aus­zu­ge­hen: eine schö­ne ero­ti­sche Nacht, zwi­schen ei­nem Mann (er hat’s ja ge­schrie­ben) und ei­ner Frau oder auch um­ge­kehrt (doch, ich kann’s mir auch vor­stel­len als Lie­bes­brief an mei­nen Freund, sagt das jun­ge Mäd­chen), nein nein, mei­net­we­gen zwei Frau­en nach ei­ner Lie­bes­nacht, zwei Män­ner, aber muss es denn die Ero­tik sein, se­xu­ell, könn­te es nicht ein­fach nur ein schö­nes Ge­spräch ge­we­sen sein, zwi­schen wem auch im­mer; ein Ge­spräch, so nah, so al­les, dass man am Mor­gen die gan­ze Welt um­ar­men könnte?!“
„Es ist ein­fach nur ein Du! Und du kannst dir dein Du ein­set­zen! Das Er­leb­te auch!“
„Aber es ist auch ein klei­nes biss­chen Trau­er dar­in. Es ist eine An­spra­che, ein Brief fast an ein Du. Aber schon in der ers­ten Zei­le: ‚am Mor­gen da­nach’…, es ist eben schon ‚da­nach‘; der schö­ne Au­gen­blick ist schon vor­bei; ein Rück­blick, schon fast Er­in­ne­rung! Eine be­stimm­te Art von Glück hält zwar noch an, er hüpft ja noch, aber das, was die­ses Glück aus­ge­löst hat, das ei­gent­li­che Ge­sche­hen ist längst vor­bei; das Glück der Nähe z.B. ist längst wie­der, zu­min­dest räum­lich, Fer­ne. Da ist auch et­was Trau­ri­ges in dem Gedicht!“
„Aber ist das nicht ge­ra­de ty­pisch für uns Men­schen? Ist es nicht oft so, oder viel­leicht im­mer, dass wir das Be­son­de­re ei­nes er­leb­ten Au­gen­blicks oder ei­ner er­leb­ten Zeit, die gan­ze Be­deu­tung, In­ten­si­tät und Wucht erst im nach­hin­ein, erst in der Er­in­ne­rung so rich­tig spü­ren!?“ – „Das scheint mir ein­fach zum Men­schen zu ge­hö­ren. Das macht doch auch sei­ne spe­zi­fisch mensch­li­che Tra­gik im­mer wie­der aus, das hängt mit der Fä­hig­keit des Be­wusst­seins zu­sam­men, dass Lie­be und Schmerz, Freu­de und Trau­er, Le­ben und Tod nicht von­ein­an­der zu tren­nen sind. Das macht ihn ge­ra­de­zu erst zum Men­schen, dass er dazu ver­dammt ist, bei je­dem schö­nen ge­leb­ten Au­gen­blick so­fort auch im­mer des­sen End­lich­keit im Be­wusst­sein mit­le­ben zu müssen.“
„Bei al­lem, was jetzt über mit­schwin­gen­de Trau­er ge­sagt wor­den ist, und ich fin­de es schön, dass das auch drin ist in die­sem klei­nen Ge­dicht: das do­mi­nie­ren­de Ge­fühl bleibt für mich die Freu­de, und durch den Ti­tel wird doch dem­je­ni­gen, der das Glück aus­ge­löst oder ge­ge­ben hat, ge­nau die­ses Glück wie­der zurückgegeben.“
Wir wol­len hier ab­bre­chen; es lies­se sich noch mehr aus den Ge­sprä­chen berichten.


Das Gedicht als Selbstverständigung zwischen Sprache und Realität

Im­mer wie­der auf­re­gend an ih­nen ist zu er­le­ben, wie sich das Ich des Au­tors und das Ich des Le­sers be­geg­nen im ly­ri­schen Ich des Ge­dichts. „Die Poe­sie ist eine Mög­lich­keit, über Din­ge zu spre­chen, über die man ei­gent­lich nicht spre­chen kann.“ (ebd.) Dies ist dop­pel­deu­tig: Ent­we­der der Au­tor mag über Be­stimm­tes, z.B. sich selbst, nicht spre­chen, höchs­tens im Ge­dicht (und En­zens­ber­ger meint ge­nau dies im zi­tier­ten Ge­spräch) oder: er kann es nicht; der ge­wohn­te Um­gang mit Spra­che reicht nicht aus.

Günter Kunert - Lyriker Schriftsteller - Glarean Magazin
Gün­ter Ku­n­ert: „Im Ge­dicht muss sich der Le­ser mit sich sel­ber befassen“

Hein­rich Vorm­weg be­schreibt 1990 das heu­ti­ge Ge­dicht „als die pure mensch­li­che Selbst­ver­stän­di­gung zwi­schen Spra­che und Rea­li­tät“ (H. Vorm­weg: Ver­tei­di­gung des Ge­dichts, Göt­tin­ger Su­del­blät­ter, 1990). So, im Pro­zess des Schrei­bens selbst ein Su­chen­der, ent­lässt der Au­tor sein Ge­dicht an den Le­ser, und ein wech­sel­sei­ti­ger Aus­tausch be­ginnt; dazu Gün­ter Ku­n­ert: „Der Zweck des Ge­dichts, glau­be ich, ist sein Le­ser, der, in­dem er sich mit dem Ge­dicht be­fasst, sich mit sich sel­ber zu be­fas­sen ge­nö­tigt wird: in ei­nem dia­lek­ti­schen Vor­gang, im glei­chen, den ihm das Ge­dicht vor­schreibt und vor­ex­er­ziert. Das span­nungs­träch­ti­ge ly­ri­sche Ich und das Le­ser-Ich wer­den wäh­rend des Le­sens iden­tisch und gleich­zei­tig nicht iden­tisch; das eine ver­frem­det das an­de­re und deckt es doch gleich­zei­tig. Das Ge­dicht färbt die Psy­che des Le­sers, er wie­der­um färbt nach sei­nem Eben­bild das Ge­dicht“ (G. Ku­n­ert: War­um schrei­ben, Mün­chen 1976).

Ein echter Text musste geschrieben werden“

Danilo Kis - Schriftsteller Lyriker - Glarean Magazin
Da­ni­lo Kis: „Ein ech­ter Text ist ein sol­cher, der ge­schrie­ben wur­de, weil er ge­schrie­ben wer­den musste“

Neh­men wir nun noch, um von der schein­ba­ren Ein­gren­zung un­se­rer Be­trach­tung auf die Ly­rik weg­zu­kom­men, ein kur­zes poe­to­lo­gi­sches Cre­do des ju­go­sla­wi­schen Ro­man­ciers und Es­say­is­ten Da­ni­lo Kis. Auf die Fra­ge: „Was ist der schwers­te Feh­ler, den ein Schrift­stel­ler be­ge­hen kann?“, ant­wor­tet er: „Über et­was zu schrei­ben, was ihn nicht im In­ners­ten be­rührt. […] Ein ech­ter Text ist ein sol­cher, der ge­schrie­ben wur­de, weil er ge­schrie­ben wer­den muss­te. Das ist aus dem Text zu spü­ren. Ist es die Wahr­heit dei­nes We­sens, die sich im Text aus­drückt, oder stammt die­ser Text von ei­nem ge­wand­ten und be­le­se­nen Viel­schrei­ber? Dar­in liegt der Un­ter­schied zwi­schen gu­ten und schlech­ten Au­toren […] Ein ech­ter Text ent­steht nicht aus hand­werk­li­cher Fer­tig­keit, son­dern aus Zwän­gen und Emp­fin­dun­gen, die den Au­tor zum Schrei­ben ge­trie­ben ha­ben“ (D. Kis: Homo poe­ti­cus, Mün­chen 1994).
Wenn im vo­ri­gen die Be­geg­nung zwi­schen dem Ich des Au­tors, dem ly­ri­schen und dem le­sen­den Ich auch be­wusst an ei­nem mög­lichst klei­nen, über­schau­ba­ren, un­po­li­ti­schen Lie­bes­ge­dicht dar­ge­stellt wur­de, so lässt sich nach die­ser Pro­sa­poe­to­lo­gie von D. Kis die Fra­ge „Wozu Li­te­ra­tur?“ ab­schlies­send viel­leicht doch et­was all­ge­mei­ner beantworten:

Das „Geschehen“ eines Textes verändert Schreiber und Leser

Ein „ech­ter Text“ (Kis) – und zwar in al­len Gat­tun­gen – wird nicht ge­schrie­ben un­ter dem Pos­tu­lat ei­nes klar um­ris­se­nen Zwecks („Wozu?“), son­dern er ge­schieht, als exis­ten­ti­el­le Ant­wort und Fra­ge des Au­tors an die Welt und die Schein­bar­keit ih­rer Rea­li­tät. Li­te­ra­tur ge­schieht – und das zwei­mal: Ein­mal durch den Au­tor, der schrei­bend sich selbst be­geg­net, und ein zwei­tes Mal durch den Le­ser, der le­send sich selbst (und mög­li­cher­wei­se auch dem Au­tor) begegnet.
Se­hen wir ein­mal ab von an­de­ren non­ver­ba­len For­men der Kom­mu­ni­ka­ti­on, die wir – viel zu­ver­läs­si­ger und ef­fi­zi­en­ter als die Spra­che – bei al­len hö­her­ent­wi­ckel­ten Le­be­we­sen heu­te erst lang­sam zu ak­zep­tie­ren und zu se­hen be­reit sind: Li­te­ra­tur – mit ih­rem Sitz ge­nau zwi­schen Den­ken und Füh­len – ge­schieht als viel­leicht höchs­te Form der sprach­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on, und zwar mit sich selbst und dem an­de­ren. Und ein sol­cher Text ver­än­dert bei­de, Au­tor wie Le­ser; kei­ner von bei­den ist nach dem „Ge­sche­hen“ des Tex­tes – ob nun Schrei­ben oder Le­sen – noch ganz der glei­che, der er vor die­sem „Ge­sche­hen“ war. ♦

1)Der Au­tor be­ant­wor­tet in die­sem Es­say eine Fra­ge, die der Glarean-Her­aus­ge­ber vor ei­ni­gen Jah­ren im Zuge ei­ner ge­plan­ten Buch-An­tho­lo­gie an ver­schie­de­ne deutsch­spra­chi­ge Schrift­stel­le­rIn­nen richtete


Ar­nold Leifert

Geb. 1940 in Soest/D, Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik, Phi­lo­so­phie und Evan­ge­li­schen Theo­lo­gie, ab 1970 Re­li­gi­ons­leh­rer, seit 2000 pen­sio­niert; zahl­rei­che Pu­bli­ka­tio­nen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, in Rund­funk und TV, Trä­ger ver­schie­de­ner Li­te­ra­tur-Prei­se, seit 1994 Or­ga­ni­sa­ti­on und Mo­de­ra­ti­on der Le­se­rei­he „Sieg­bur­ger Li­te­ra­tur­fo­rum“; leb­te auf ei­nem Bau­ern­hof im Ber­gi­schen Land in Much-Hohn; ge­stor­ben am 6. Sep­tem­ber 2012

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch den Es­say von Ri­chard Al­brecht: Die Funk­ti­ons-Kom­pe­ten­zen der Literatur

… so­wie den sprach­wis­sen­schaft­li­chen Bei­trag: Jüngs­te Er­geb­nis­se der neu­ro­bio­lo­gi­schen Sprachforschung

Ein Kommentar

  1. Li­te­ra­tur spielt sich in ei­ner hö­he­ren Di­men­si­on von Raum und Zeit ab. Be­wirkt wird die­se Er­wei­te­rung durch Form. Form = In­for­ma­ti­on + geis­ti­ge En­er­gie (Schwin­gun­gen). Der exis­ten­ti­el­le Aspekt des Schrei­ben-Müs­sens be­trifft die (un­be­wuss­ten) Ar­che­ty­pen, die durch Li­te­ra­tur zu­min­dest par­ti­ell be­wusst­seins­fä­hig wer­den. Dass die­ser Pro­zess der Be­wusst­wer­dung sich über Jahr­zehn­te oder Jahr­hun­der­te hin­zie­hen kann, sieht man bei Ge­org Büch­ner, des­sen li­te­ra­ri­sche Ge­stal­tung von Ta­bu­brü­chen bis in die Ge­gen­wart kol­lek­tiv und sys­te­ma­tisch ver­drängt wird.

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)