Carsten Priebe: Eine Reise durch die Aufklärung

Eine Ente erobert die Welt

von Walter Eigenmann

Der deutsch­stäm­mi­ge Schwei­zer Fi­nanz-Pu­bli­zist und tech­nik­be­geis­ter­te Hob­by-His­to­ri­ker Dr. Cars­ten Prie­be (geb. 1967) stellt sei­nem neu­en 156-sei­ti­gen Trak­tat „Eine Rei­se durch die Auf­klä­rung über die „Ma­schi­nen, Ma­nu­fak­tu­ren und Mä­tres­sen“ in der Auf­klä­rung ei­nen „glo­rio­sen“ Aus­spruch des ma­li­ziö­sen Iro­nis­ten Vol­taire vor­an: „… ohne … die Ente von Vau­can­son hät­ten wir nichts, was noch an die Glo­rie Frank­reichs er­in­nert…“ Die Rede ist von der be­rühm­ten me­cha­ni­schen Ente des Gre­no­bler Kon­struk­teurs Jac­ques Vau­can­son, der sein tech­ni­sches Meis­ter­werk erst­mals 1738 in Pa­ris ei­ner stau­nen­den Ge­lehr­ten-Welt präsentierte.

Carsten Priebe - Eine Reise durch die Aufklärung - Maschinen, Manufakturen und Mätressen Rezension im Glarean MagazinDie Ente, auf ei­nem Po­dest fi­xiert, ver­moch­te nicht nur mit den Flü­geln zu schla­gen und zu schnat­tern, son­dern auch zu fres­sen, zu „ver­dau­en“ und sicht­bar aus­zu­schei­den – die per­fek­te Il­lu­si­on ei­nes „Tie­res“, wel­ches of­fen­bar, zeit­ge­nös­si­schen Be­rich­ten zu­fol­ge, von nicht we­ni­gen Be­trach­tern so­gar aus der Nähe für le­ben­dig ge­hal­ten wurde.
Nach dem Tode Vau­ca­nons (1782) wi­der­fuhr dem me­cha­ni­schen Wun­der­ding des ge­nia­len Tech­ni­kers eine wah­re Irr­fahrt durch das gan­ze ge­bil­de­te Eu­ro­pa des frü­hen 18. Jahr­hun­derts, (in wel­chem die Au­to­ma­ten als spe­zi­el­le Aus­prä­gung der auf­kom­men­den Tech­nik-Be­ses­sen­heit eine zen­tra­le Rol­le in der Gunst der auf­klä­re­ri­schen Sa­lons spielten).

Französische Androiden im Jahre 1749

Jacques Vaucanson (1709-1782)
Jac­ques Vau­can­son (1709-1782)

Jac­ques Vau­can­son sel­ber reis­te schon von 1732 bis 1740 mit sei­nen rat­ternd-ras­seln­den „Ge­schöp­fen“ durch Frank­reich und Ita­li­en, dar­un­ter auch mit sei­nem be­rühm­ten „Flö­ten­spie­ler“ und sei­nem „Tromm­ler“. Ei­ner der öf­fent­li­chen Hö­he­punk­te sei­nes Schaf­fens bil­de­te im Jah­re 1749 sei­ne gros­se Prä­sen­ta­ti­on von drei neu­en An­dro­iden auf dem Markt von St. Ger­main. Buch-Au­tor Prie­be schil­dert die tech­ni­sche Leis­tung der drit­ten Fi­gur die­ses be­staun­ten Vau­can­son­schen „Tryp­ti­chons“: „Der drit­te An­droid war als Mohr kos­tü­miert und hat­te in der ei­nen Hand eine Glo­cke, in der an­de­ren ei­nen Ham­mer. Es ge­lang Vau­can­son, die schwie­ri­ge Auf­ga­be zu lö­sen, dass der Mohr ziel­si­cher mit dem Ham­mer die frei­schwin­gen­de Glo­cke traf.[…]“

Sittengemälde der ganzen Aufklärung

Vaucanson - Mechanische Ente - Glarean Magazin
Vau­can­sons „Me­cha­ni­sche Ente“

Cars­ten Prie­bes „Rei­se durch die Auf­klä­rung“ wäre al­ler­dings nur halb so in­ter­es­sant, wenn sie es bei der pu­ren Wir­kungs­ge­schich­te ei­nes Tech­nik-Wun­der­wer­kes be­lies­se. Viel­mehr ge­rät des Au­tors „Su­che nach künst­li­chem Le­ben“ via zeit­ge­nös­si­sche Me­cha­nik zu ei­ner Art Sit­ten-, Po­li­tik- und Phi­lo­so­phie-Ge­mäl­de des ge­sam­ten Auf­klä­rungs-Zeit­al­ters, ei­ner Tour d’horizont, wel­che sich vom Russ­land-Schwe­den-Krieg (1709) und der Ge­burt Di­de­rots (1713) über den pol­ni­schen Thron­fol­ge-Krieg (1738) und die Ge­burt Goe­thes (1749) bis hin zu Na­po­le­on (1769), Lou­is XVI (1774) und den ame­ri­ka­ni­schen Un­ab­hän­gig­keits­krieg (1775-1783) er­streckt. Der Band ist eine sehr be­le­se­ne, im­mer wie­der frap­pant die tech­ni­schen und bio­gra­phi­schen mit den so­zia­len und kul­tu­rel­len Aus­prä­gun­gen des Jahr­hun­derts ver­knüp­fen­de, da­bei flüs­sig-un­ter­halt­sam for­mu­lier­te Ab­hand­lung, wel­che dem Le­ser eine er­staun­li­che Fak­ten- und De­tail-Fül­le ausbreitet.

Automatenbau als Modell des Menschenbildes

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Prie­be ge­lingt es durch ge­schickt ver­we­ben­des Do­ku­men­tie­ren, jene da­ma­li­ge und noch heu­te nach­wir­ken­de Tech­nik-Hy­bris zu ver­an­schau­li­chen, wie sie u.a. in der be­rühm­ten ge­wor­de­nen, pro­gram­ma­ti­schen Schrift „L’Homme-Machine“ des Phi­lo­so­phen J.O. de la Mettrie gip­fel­te. Dar­in be­schreibt La Mettrie den Men­schen als eine sich selbst steu­ern­de Ma­schi­ne, die sich – ei­nem prä­zi­sen Uhr­werk gleich – al­lein auf­grund me­cha­nisch-phy­si­ka­li­scher Prin­zi­pi­en de­fi­nie­ren lasse.
Im Zuge der  auf­kom­men­den Re­li­gi­ons-Kri­tik – pi­kan­ter­wei­se war Vau­can­son Je­sui­ten-Zög­ling! – stan­den da­mals Au­to­ma­ten-Kon­struk­ti­on und Men­schen­bild in ei­ner wech­sel­sei­ti­gen Be­zie­hung, wie sie u.a. der Gra­zer Kunst-His­to­ri­ker Wen­zel Mracek in sei­nem Es­say „Si­mu­la­tum Cor­pus – Vom künst­li­chen zum vir­tu­el­len Men­schen“ (In­sti­tut für Kunst­ge­schich­te, Graz 2001) for­mu­liert: „Ei­ner­seits war es ein me­cha­nis­tisch be­stimm­tes Bild vom Or­ga­nis­mus, das als Grund­la­ge für die Schaf­fung künst­li­cher Men­schen in Form im­mer per­fek­te­rer Au­to­ma­ten dien­te, um­ge­kehrt lie­fer­te der Au­to­ma­ten­bau wie­der­um das Mo­dell für das Men­schen­bild.“ (250 Jah­re spä­ter soll­te die­ser Ge­dan­ke in ge­wan­del­ter Form z.B. als li­te­ra­ri­sche Sci­ence Fic­tion bei Isaak Asi­mov er­neut un­ge­ahn­te Er­fol­ge feiern).

Epochales Synonym der Technik-Geschichte

Carsten Priebe
Cars­ten Priebe

Cars­ten Prie­be legt mit „Eine Rei­se durch die Auf­klä­rung“ eine glei­cher­mas­sen in­for­ma­tiv wie ge­nuss­voll zu le­sen­de Do­ku­men­ta­ti­on vor über eine Ente, die kei­ne ist, und doch mehr ist als eine Ente… Ein My­thos näm­lich, und in Wir­kung und Ge­schich­te ein Syn­onym für eine gan­ze Epo­che eu­ro­päi­scher Geis­tes­ge­schich­te. Da­bei spart der Au­tor kei­nes­wegs an mar­tia­li­schen Schil­de­run­gen auch der fins­ters­ten Hin­ter­hö­fe je­ner Zeit, wel­che be­kannt­lich nicht nur na­tur­wis­sen­schaft­li­che Er­run­gen­schaf­ten, son­dern auch Pest und Siech­tum, nicht nur Frei­geist-Theo­rien und re­vo­lu­tio­nä­re Po­lit-Be­we­gun­gen, son­dern auch Fol­ter und Hin­rich­tung, nicht nur tech­ni­sche Hö­hen­flü­ge, son­dern auch Will­kür und Feu­da­lis­mus kannte.
Auf­klä­rung mal ganz an­ders – als üp­pig auf­be­rei­te­te Fähr­ten­su­che nach ei­ner Ma­schi­ne, de­ren Spur durch ganz Eu­ro­pa an vie­len wich­ti­gen Den­kern vor­bei in zahl­rei­che wis­sen­schaft­li­che und ge­lehr­te „Sa­lons“ führt und da­bei der Le­ser­schaft auf un­ter­halt­sa­me Wei­se nicht nur ein Tech­nik-Ge­nie je­ner Zeit, son­dern auch ein Ge­dan­ken­gut nä­her­bringt, das bis in un­se­re Tage nachwirkt. ♦

Cars­ten Prie­be: Eine Rei­se durch die Auf­klä­rung, Edi­ti­on BoD, 156 Sei­ten, ISBN 978-3833486142

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma „Fran­zö­si­sche Auf­klä­rung“ auch über Fried­rich Schil­ler: Die Räuber

… und zum The­ma Di­gi­ta­li­sie­rung das „Zi­tat der Wo­che“: Von den Deck­män­tel­chen „Mo­der­ni­sie­rung“ und Flexiblisierung“

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