Stephanie Bart: Seemannsgarn (Kurzprosa)

Seemannsgarn

Ste­pha­nie Bart

Ich gehe spa­zie­ren in Ham­burg auf St. Pauli. Nicht in St. Pauli, son­dern auf St. Pauli, wie man in Ham­burg sagt. Als ob St. Pauli eine Insel wäre. Es spinnt sich viel See­manns­garn auf und um St. Pauli herum, obwohl die See­män­ner schon lange nicht mehr an Land kom­men dür­fen, weil das den Ree­de­reien zu teuer ist. Die Matro­sen sol­len was tun für die Heuer und fix den Kaf­fee ver­la­den, damit das Schiff den ach so kost­spie­li­gen Hafen so schnell wie mög­lich wie­der ver­las­sen kann. Keine See­män­ner mehr auf St. Pauli und doch immer noch lan­ges, end­lo­ses See­manns­garn, ver­floch­ten, ver­wo­ben, und alle, alle glau­ben daran.  Glit­zern­des, schwit­zen­des Amü­sier­ge­werbe, kon­trol­lier­tes Ver­bre­chen, Rand­exis­ten­zen und Künst­ler­tum und gemein­sin­nig boden­stän­dige Nach­bar­schaft weben daran, flech­ten am Seemannsgarn.
An der Ecke David­s­trasse Bern­hard-Nocht-Strasse spricht ein Pas­sant einen ande­ren an:  “Ent­schul­di­gung, könn­ten Sie mir bitte sagen, was Hei­mat ist?” –  “Natür­lich: Hei­mat ist, wo ich mich ver­än­dern kann.” –  “Ver­än­dern, ja, vie­len Dank.” –  “Keine Ursache.”
Ich gehe run­ter zu den Lan­dungs­brü­cken und setz mich da auf eine Bank. Dann nehme ich das Paket aus der Tasche, das vor­hin mit der Post gekom­men ist. Es ent­hält einen Sta­pel ver­schie­den beschrie­be­ner Sei­ten und eine Post­karte vom Münch­ner Okto­ber­fest mit einer blon­den, blau­äu­gi­gen Ser­vie­re­rin vorne drauf und fol­gen­dem Text auf der Rück­seite:  “Liebe S., wer aus­ser dir könnte damit etwas anfan­gen, dachte ich und schi­cke dir also, was ich bei der Haus­halts­auf­lö­sung dei­nes ver­stor­be­nen Onkels für dich zur Seite gelegt habe: Tage­buch­auf­zeich­nun­gen dei­nes Onkels, der ja ein pedan­ti­scher Archi­var war, bruch­stück­haft die Skiz­zen für die phi­lo­so­phi­schen Ver­su­che sei­nes Onkels, also dei­nes Gross­on­kels und einen Rei­se­be­richt wie­derum sei­nes Onkels, also dei­nes Urgross­on­kels. Die drei Sta­pel lagen säu­ber­lich auf dem Schreib­tisch, aber dann  kam der Kater mit sei­ner wun­der­li­chen Nei­gung zu Büchern und Manu­skrip­ten, und hin­ter­her war alles durch­ein­an­der. Ich über­lasse es dir so, wie es ist, herz­li­che Grüsse, dein Onkel T.” Ich beginne zu lesen:
“Ich wohne in einer anstän­di­gen Strasse. Die Häu­ser sind in den 50er und 60er Jah­ren erbaut wor­den, sind aber ihrer sorg­fäl­ti­gen Pflege wegen sehr gut erhal­ten und sehen nach wie vor wie neu aus. Die Leute woh­nen alle schon sehr lange hier. Im Grunde genom­men kennt man sich, aber man ist nicht etwa befreun­det oder lädt sich zum Kaf­fee ein. Ich wohne seit jeher sehr gerne hier, denn es ist eine ruhige und, wie gesagt, anstän­dige Gegend.
Eigent­lich kann ich über­haupt nicht mehr woh­nen. Die Woh­nun­gen, in denen ich gross gewor­den bin, haben etwas Uner­träg­li­ches ange­nom­men: Jeder Zug des Beha­gens darin ist mit Ver­rat an der Erkennt­nis, jede Spur der Gebor­gen­heit mit der muf­fi­gen Inter­es­sen­ge­mein­schaft der Fami­lie bezahlt.
Ich kam mit dem Post­damp­fer von Syd­ney, und als ich den Hafen der Insel erreichte, lagen an der gros­sen Kai­mauer zwei bis drei Damp­fer und eben­so­viel grosse Segel­schiffe. Auf dem Kai selbst wink­ten uns Taschen­tü­cher und Son­nen­schirme ent­ge­gen. Da stan­den Zoll­be­amte mit Tro­pen­helm zwi­schen weis­sen Sied­lern in Pyja­mas, ent­las­sene Sträf­linge und deser­tierte Matro­sen lun­ger­ten herum, und einige Ein­ge­bo­rene mach­ten gros­sen Lärm.”
Ich habe noch nie etwas von die­sen Onkeln gehört. Ich schaue in die blaue Luft und atme den schwa­chen Salz­ge­ruch ein, den das Meer von der Elb­mün­dung bis hier her noch weht. Dann lese ich weiter:
“Ich habe in unse­rem Haus ein Arbeits­zim­mer. Es ist eine Dach­kam­mer, die ich mir selbst aus­ge­baut habe, teil­weise zumin­dest. Den Tep­pich habe ich von einem Fach­mann ver­le­gen las­sen, aber es war mir, der ich einer geis­ti­gen Tätig­keit nach­gehe, eine will­kom­mene Abwechs­lung, mich ein­mal hand­werk­lich zu betä­ti­gen, und so habe ich die höl­zerne Decken­ver­klei­dung eigen­hän­dig ein­ge­zo­gen, an den Schrä­gen wie am Pla­fond, und ich darf in aller Beschei­den­heit sagen, dass ich sie immer wie­der mit Stolz betrachte.
Wenn ich mich mit Möbel­ent­wür­fen und Innen­de­ko­ra­tion beschäf­tige, gerate ich in die Nähe des kunst­ge­werb­li­chen Fein­sinns vom Schlag der Biblio­phi­len, wie ent­schlos­sen ich auch gegen das Kunst­ge­werbe im enge­ren Sinne ange­hen mag.
Mitt­ler­weile haben die Kur­ven der rei­nen Zweck­form gegen ihre Funk­tion sich ver­selb­stän­digt und gehen ebenso ins Orna­ment über wie die kubis­ti­schen Grundgestalten.
Par­al­lele Stras­sen­züge führ­ten vom Hafen nach den Hügeln, die hin­ten die Stadt begrenz­ten. Ich trat auf einen lee­ren, unsau­be­ren Platz mit einem Brun­nen. Dort träum­ten auf mor­schen Drosch­ken ver­kom­mene Kut­scher. Irgendwo war ein weiss  gestri­che­nes Rat­haus und irgendwo auch die Resi­denz des Gou­ver­neurs. Auf der Strasse sah ich Ver­wal­tungs­be­amte mit gewie­ner­ten Schnurr­bär­ten und weisse Sied­ler, Händ­ler näm­lich, Gast­wirte und kleine Pflan­zer, die den Pyjama zum Stras­sen­an­zug gemacht hat­ten. Die tro­pi­sche Sonne hatte ihnen einen Hauch von Ver­nunft ein­ge­brannt, und die Ferne zu den euro­päi­schen Kon­ven­tio­nen ein Übri­ges getan: End­lich woll­ten sie es bequem haben. Zuerst hat­ten sie den Schlaf­an­zug nach dem Auf­ste­hen aus­ge­zo­gen, dann nach dem Früh­stück, und dann gar nicht mehr.
Sie hat­ten schnell erkannt, dass er die ideale Beklei­dung war. Per­fekt für das Klima und kom­for­ta­bel in jeder Rich­tung hob er sie sowohl von den Kolo­ni­al­be­am­ten und Mit­glie­dern der staat­li­chen Han­dels­ge­sell­schaf­ten ab, wie er sie den Ein­ge­bo­re­nen gegen­über als Euro­päer aus­wies. Die Be-amten und die Sied­ler waren Män­ner mitt­le­ren und geho­be­nen Alters, die sich nach der Arbeit im Cer­cle sam­mel­ten und Kar­ten spiel­ten, aus­ran­gierte Artis­tin­nen von Syd­ney in einem Tin­gel­tan­gel beklatsch­ten und Kine­ma­to­gra­phen bewunderten.”
Ich ste­cke das Paket in die Tasche und geh rüber zur Überseebrücke.
Unter­wegs spricht mich ein Spa­zier­gän­ger an:  “Ent­schul­di­gung, könn­ten Sie mir bitte sagen, was Hei­mat ist?” –  “Bitte schön, Hei­mat ist eine Ent­schei­dung, die unter Umstän­den auch im Exil getrof­fen wer­den kann.” – “Ent­schei­dung, Exil, alles klar, vie­len Dank.” –  “Da nich für.”
Auf dem Pon­ton von der Über­see­brü­cke ste­hen zwei Bänke und ich setz mich auf die linke davon. Die Cap San Diego liegt fest ver­täut und rührt sich nicht. Ich lese weiter:
“In die­ser Dach­kam­mer kann ich ganz unge­stört arbei­ten, und ich ziehe mich auch dahin zurück, wenn ich zum Bei­spiel in Ruhe ein Kreuz­wort­rät­sel lösen möchte. Hier oben beläs­tigt mich nicht ein­mal das Radio, das meine Frau in der Küche sehr laut ein­ge­stellt hat, damit es die Dunst­ab­zugs­haube und das Töp­fe­klap­pern übertönt.
Ich wei­che der Ver­ant­wor­tung fürs Woh­nen aus, indem ich ins Hotel oder ins möblierte Appar­te­ment ziehe, und mache damit gleich­sam aus den auf­ge­zwun­ge­nen Bedin­gun­gen der Emi­gra­tion die lebens­kluge Norm.”
Da fegt eine Brise die drei obers­ten Blät­ter mei­ner Lek­türe in einem has­tig hin­ge­rotz­ten Bal­let bis zum Rand des Pon­tons, lässt sie einen hal­ben Atem­zug lang zögern, hebt sie ele­gant über die Kante, und dann segeln sie übers silb­rig glit­zernde Was­ser, bis sie die Ober­flä­che berüh­ren und mit der lang­sa­men Strö­mung hin­aus treiben.
“Ich fand”, berich­tet mein Urgross­on­kel nach den drei weg­ge­weh­ten Blät­tern,  “dass die ein­zige Auf­re­gung der Insel die monat­li­che Ankunft und Abfahrt des Post­damp­fers von und nach Syd­ney war. Alles, was etwas auf sich hielt, stand dann ein bis zwei Stun­den auf dem Kai und winkte Unbe­kann­ten zu, mit Taschen­tuch, Son­nen­schirm und viel Eifer.”
Von der Brü­cke kommt eine ältere Dame mit einem klei­nen Hund und setzt sich auf die andere Bank, und dann kommt ein Pen­ner und spricht die Dame an:
“Ent­schul­di­gung, könn­ten Sie mir bitte sagen, wo ich zu Hause bin?” Die Dame nickt und lächelt:  “Es gehört zur Moral, jun­ger Mann, nicht bei sich sel­ber zu Hause zu sein. Schon Nietz­sche…” –  “Auch Nietz­sche hatte ein Arbeits­zim­mer”, mault der Pen­ner und trollt sich, und da fällt mir ein, wer die Onkel sind.
“Diese ein­zige Auf­re­gung war eine in ihrer Unschuld rüh­rend wir­kende Zer­streu­ung”, schreibt mein Urgross­on­kel und macht einen Gedan­ken­strich:  ” – und sie war sym­pto­ma­tisch für die Lan­ge­weile, die in die­sem tro­pi­schen Sel­dwyla gna­den­los herrschte.” ♦


Stephanie Bart - Glarean Magazin

Ste­pha­nie Bart

Geb. 1965 in Esslingen/D, Stu­dium der Eth­no­lo­gie und der Poli­ti­schen Wis­sen­schaf­ten an der Uni­ver­si­tät Ham­burg, ver­schie­dene Brot­er­werbs­tä­tig­kei­ten, lebt als Rik­scha-Fah­re­rin und Stadt­füh­re­rin in Berlin

Lesen Sie im Glarean Maga­zin auch den sati­ri­schen Kurz­prosa-Text von Georg Schwi­kart: Dichtersorgen
… sowie zum Thema Prosa über den Roman von Tania Krät­sch­mar: Die Rück­kehr der Apfelfrauen

Ein Kommentar

  1. Liebe Steffi,
    danke sehr für den anre­gen­den Aus­flug zu den St. Pauli Lan­dungs­brü­cken, die­sen Ort, der sich wohl unüber­treff­lich zu einer Refle­xion über den woh­nen­den Zustand anbietet.

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