Ernst-Edmund Keil: Milch und Blut (Satire)

Milch und Blut

Ernst-Ed­mund Keil

Stadt­rand­sied­lung der Baye­risch-Kö­nig­li­chen Me­tro­po­le. Im Post­amt auf der Rück­sei­te des Bal­kan-Grills, wo er sich an den Schal­ter stellt, in eine Schlan­ge, nach­dem er zu Hau­se, hoch im Nor­den und also für ihn un­er­reich­bar, sein Te­le­fon­büch­lein hat­te lie­gen las­sen, ver­gess­li­cher­wei­se, die be­gehr­te Num­mer auch hier, am Stän­der, nir­gend­wo ent­de­cken konn­te, denn der war viel­fach frei­staat­lich be­setzt und hat­te kei­nen Raum mehr für den Rest der Republik.
Also schlän­gelt er sich ge­dul­dig, hoff­nungs­voll an den Schal­ter her­an. Vor ihm ein Mann in ei­ner „Le­der­ho­sen“ mit Gams­bart und ba­ju­wa­ri­schem Äus­se­ren. Wer sagt’s denn! Ges­tern war er noch in der In­nen­stadt ge­we­sen, hin mit S und re­tour mit U, und hat­te den Ein­druck ge­won­nen, die Rö­mer sei­en als Sie­ger an den Li­mes zu­rück­ge­kehrt und hät­ten die Ba­ju­wa­ren end­gül­tig zu ei­nem mu­se­al-ar­chäo­lo­gi­schen The­ma de­kla­riert. Dem, denkt er, ist also nicht ganz so oder so ganz. Im Ge­gen­teil. Nach­dem der Le­der­be­hos­te pos­ta­lisch be­dient war, er­scheint jetzt vor ihm im of­fe­nen Schal­ter­oval, nicht an­ders als in ei­ner früh­ro­ma­ni­schen Man­dor­la, ein Ge­sicht­chen, ein weib­li­ches, aus Milch und Blut, das ihn an alt­baye­ri­sche Fröm­mig­keit er­in­nert – auch sie, denkt er, gibt es also noch -, und das rich­tet nun mit Ma­don­nen­blick und au­to­chtho­nem Zun­gen­schlag die früh­christ­li­chen Au­gen auf bzw. ge­gen ihn, dass er ge­ra­de­zu ins Stot­tern gerät.
Auf dem Stän­der, ver­sucht er ihr miss­ver­ständ­lich klar­zu­ma­chen, habe er eine Num­mer be­gehrt, lei­der völ­lig ver­geb­lich, wor­auf sie mit ver­schäm­ter Un­schuld (oder Neu­gier?) ihre man­del­brau­nen Ma­don­nen­au­gen nie­der­schlägt. Ja, und ob sie ihm viel­leicht, hin­ter dem Schal­ter, sei­ne Num­mer ge­ben kön­ne – nein? – oder doch sein Buch, und nennt schliess­lich die Stadt, die er sucht und die hoch im Nor­den sei­nes Va­ter­lan­des liegt. Wor­auf sie, durch­at­mend, auf­sieht, mit dem En­gels­köpf­chen nickt und, nach­dem sie ihn ver­söhn­lich um Ge­duld ge­be­ten, aus sei­nem Ge­sichts­kreis ver­schwin­det, oder soll­te er bes­ser sa­gen: ent­schwebt? Wo­hin wohl und hof­fent­lich nicht für immer?
Doch kehrt sie nach ei­nem Weil­chen, leis‘ und mit lee­rer Hand, zu­rück, das hol­de Haupt dies­mal in der Ho­ri­zon­ta­len be­we­gend, mit christ­li­chem Be­dau­ern. Sie habe nur baye­ri­sche Bü­cher, und die Stadt, die er su­che, lie­ge au­gen­schein­lich nicht im Frei­staat, son­dern aus­ser­halb. Das Aus­land aber, bitt­schön, würd‘ er nur fin­den auf der Haupt­post, in Mo­sach, wis­sen s, da her­un­ten bei der U-Bahn. Und be­schei­det ihn, hold lä­chelnd wie der Isar­him­mel, mit ei­nem se­li­gen „Grüss Gott!“ Er ver­spricht, als Glau­bens­bru­der, ihn zu grüs­sen, ob­wohl er, we­gen der Num­mer, die­se Bay­ern­post im Her­zen tief zum Teu­fel wünscht.
Draus­sen ist es, ob­gleich erst An­fang Juni, heiss wie in Afri­ka. An der Ecke steht ein Ara­ber mit ei­nem Obst­stand un­ter frei­em Som­mer­him­mel und preist sin­gend sei­ne Früch­te an. Er kauft ein Schäl­chen, das kos­tet so viel oder so we­nig wie in sei­ner 600 Ki­lo­me­ter ent­fern­ten Hei­mat­stadt am Rhein. Auf dem Preis­schild­chen ist – nicht ba­ju­wa­risch, nicht se­mi­tisch. son­dern lu­the­risch-na­tio­nal – zu le­sen: „Deut­sche Erd­bee­ren“. Na, wer sagt’s denn! Das reisst die Gren­zen, die die­se baye­ri­sche Ma­don­na ihm lieb­lich-streng ge­zo­gen, her­nie­der bis auf den müt­ter­li­chen Grund und lässt ihn, als Staats- und Bun­des­bür­ger, wie­der frei­er at­men. Oh ei­nig-süs­ses Va­ter­land, denkt er, wie lieb ich dich, und schiebt mit die­sen Wor­ten sich eine di­cke, deut­sche Erd­bee­re un­ge­wa­schen in den Mund. ♦


Ernst Edmund Keil - Glarean Magazin

Ernst-Ed­mund Keil

Geb. 1938 in Duis­burg-Huck­in­gen/D, Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik und An­glis­tik in Bonn, Stu­di­en­as­ses­sor in Oberhausen&Mülheim, an­schlies­send Pro­fes­sur für Deut­sche Li­te­ra­tur a. d. Uni­ver­si­tät Valencia/ESP; zahl­rei­che bel­le­tris­ti­sche, ly­ri­sche, thea­tra­li­sche und es­say­is­ti­sche Buch-Pu­bli­ka­tio­nen so­wie her­aus­ge­be­ri­sche Tä­tig­keit, Trä­ger ver­schie­de­ner Li­te­ra­tur­prei­se, lebt in Sin­zig-Bad­Bo­den­dor­f/D

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