Karl-Heinz Schreiber: Warum noch Gedichte? (Essay)

Die Lyrik als interaktionistische Sublimations-Prophylaxe

von Karl-Heinz Schreiber

Es war, als trä­te ich ins Ma­nu­skript ein…“
(Dür­ren­matt, Justiz)

Was wis­sen wir schon von ei­nem Ge­dicht?! Wir wis­sen nicht ein­mal, wel­ches Wet­ter bei sei­ner Ent­ste­hung do­mi­nier­te. Nur ein we­nig Sen­si­bi­li­tät des je­wei­li­gen Au­tors scheint re­gis­trier­bar. Aber was be­sagt dies ei­gent­lich?! Emp­find­lich sind wir alle. Emp­fäng­lich sind die we­nigs­ten. Zu­min­dest für die fei­ne­ren Rei­ze. Und zu de­nen zäh­len zwei­fels­oh­ne Frau­en und Ge­dich­te. Al­ler­dings muss es hier­bei eine Un­ter­schied­lich­keit ge­ben. Wer hät­te nicht schon eine Frau be­dich­tet?! Aber wer be­fraut schon ein Ge­dicht?! Ob­wohl auch dies nicht un­in­ter­es­sant sein dürfte!

Warum schreiben wir Gedichte?

Nun soll also das Ge­dicht wirk­sam wer­den. In fast schon the­ra­peu­ti­scher Hin­sicht. Miss­braucht wird es of­fen­sicht­lich oh­ne­hin und stets. Wie lieβe sich nun Dich­ten ohne Bal­last prak­ti­zie­ren?! Könn­te das Ge­dicht dem vor­beu­gen, wozu es sonst miss­braucht wer­den könn­te?! Man ver­steht Lo­gik? Wie lieβe sich et­was ver­hin­dern, zu des­sen Be­sei­ti­gung man ge­nau das bräuch­te, was sei­ne Ver­hin­de­rung nicht be­werk­stel­li­gen konn­te?! Oder: War­um schrei­ben wir Ge­dich­te?! Könn­te durch das Schrei­ben ei­nes Ge­dichts das Schrei­ben ei­nes Ge­dichts ver­hin­dert wer­den?! Dies ist die epo­cha­le Fra­ge. Oder wer­den Ge­dich­te wo­mög­lich auch noch aus an­de­ren Grün­den ge­schrie­ben, als an­de­re Ge­dich­te zu verhindern?!
Es ist Zeit für Er­schüt­te­rung. Nicht ei­gent­lich, was die The­ma­tik an­geht. Nein, hin­sicht­lich der Ak­ti­vi­tä­ten. Die Re­fle­xi­on wird al­ler­or­ten dis­kre­di­tiert. Mit Ar­gu­men­ten, die kei­ne mehr sein kön­nen, weil sie sich in der Ge­samt­schau ein­an­der auf­he­ben. Aber das stört die Frak­tio­nen nicht. Man re­kla­miert Ver­letz­lich­keit. Man schafft ori­gi­nel­le Ta­bus. Man ver­aus­gabt sich, um ein neu­ar­ti­ges Kon­zept von Pa­ra­si­ten­tum zu rechtfertigen.

Literatur ohne Einmischung?

Die Li­te­ra­tur hat den Sta­tus er­langt, le­gi­tim ver­aus­gabt sein zu dür­fen. Man er­war­tet bes­ten­falls In­no­va­tio­nen, aber kei­ne Ein­mi­schung mehr. Die Li­te­ra­tur mul­ti­pli­ziert sich zu sehr. Da­durch wird sie par­zel­lier­bar, iso­lier­bar, an­greif­bar, be­herrsch­bar. Und so ist sie in kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­ni­scher Hin­sicht un­ter das Ni­veau schlecht­be­leu­mun­de­ter Ge­heim-Di­plo­ma­tie ge­ra­ten. Die Ob­jek­ti­vier­ar­beit von ir­gend et­was, ge­schwei­ge denn von Aus­sa­gen, wur­de weg­ra­tio­na­li­siert. Als un­mo­dern und un­zweck­mäβig er­klärt. Das Sub­jek­ti­ve ist mit post­mo­der­ner End­gül­tig­keit zum al­lei­ni­gen und un­ver­söhn­li­chen Maβ­stab er­ko­ren. Je­der sein ei­ge­ner Kos­mos. Bis zur Rea­li­täts­ver­leug­nung. Ver­stän­di­gung ist plötz­lich nur noch da­durch mög­lich, dass man al­les gel­ten lässt. Die Be­lie­big­keit wird zur neu­en Orthodoxie.
Den­noch stellt sich kein Ge­fühl der Frei­heit ein. Man ist mit kal­ku­lier­ter Frei­zü­gig­keit zu­frie­den. Das ge­sell­schaft­li­che Le­ben wird in sei­ner Re­le­vanz mi­ni­ma­li­siert. Zu­sam­men­künf­te ha­ben längst nur noch ri­tu­el­len Cha­rak­ter. Die Li­te­ra­tur er­hält dort, wo sie to­le­riert wird, Wei­he­funk­ti­on. Der Au­tor ist für eine Stun­de Cha­ris­ma­ti­ker, bis man ihn am Knei­pen­tisch wie­der auf sei­ne Ba­na­li­tät zu­rück­stuft. Not­wehr und ihr Vor­wurf sind so­mit pro­gram­miert. Wo­mit wir, wie so häu­fig, bei der Fra­ge nach Be­schäf­ti­gung und Sinn der­sel­ben, beim Schrift­stel­ler wä­ren. Er kann ob­ser­vie­ren und be­dau­ern, kom­men­tie­ren und for­dern, stän­kern oder be­lo­bi­gen. Je­den­falls ist der Schrift­stel­ler im­mer ein Zu­spät­ge­kom­me­ner. Er kann noch so früh auf­ste­hen – im­mer fin­det er schon Er­geb­nis­se vor. Der Schrift­stel­ler dringt nicht bis zu den Ver­ant­wort­lich­kei­ten vor. Aus die­sen Grund ist wohl die Sub­li­ma­ti­ons­hy­po­the­se be­züg­lich der schrift­stel­le­ri­schen Be­tä­ti­gung in die Welt ge­setzt wor­den. Bös­ar­ti­ge oder naiv-wohl­mei­nen­de Kri­ti­ker mö­gen sie kon­stru­iert ha­ben. Als Ali­bi für sich selbst, um das Tun ei­nes Schrift­stel­lers auf die ganz ba­na­le Art er­klä­ren und ge­ge­be­nen­falls be­lä­cheln zu können.

Sublimieren beim Schreiben?

Der Schrift­stel­ler, dem Sub­li­ma­ti­on un­ter­stellt wird, be­fin­det sich in der Si­tua­ti­on des­je­ni­gen, der ver­hal­tens­auf­fäl­lig wur­de und dem man  ver­spricht, dass er gleich auf scho­nen­de Wei­se ab­ge­holt wer­de. Und man wer­de ihn ir­gend­wo ver­wah­ren, wo er vor sich selbst in Si­cher­heit sei. Muss­te denn die De­mü­ti­gung so weit gedeihen?
Bis die Schrift­stel­ler be­merk­ten, dass man sie in die Mit­leids-Oase ab­ge­scho­ben hat­te, war es schon sehr spät. Nun galt es wirk­sa­me, aber auch un­ver­däch­ti­ge Stra­te­gien zu ent­wi­ckeln. Nichts ist schwie­ri­ger, als sich von den Vor­wür­fen an­de­rer zu be­frei­en, ohne sich neu­er­lich zu be­las­ten. Es galt, et­was Prin­zi­pi­el­les klar­zu­krie­gen: Et­was Be­grei­fens­wer­tes be­grei­fen und et­was, was ei­nem die Nei­der des Be­grei­fens und der je­wei­li­gen Pro­ble­ma­tik miss­gön­nen – das wäre so­wohl The­ma als auch Tri­umph. Zu be­grei­fen gilt es, dass man Schrift­stel­ler nicht aus ei­nem De­fekt her­aus wird. Die Fra­ge ist, ob es eine Pro­phy­la­xe ge­gen über­flüs­si­ge Un­ter­stel­lun­gen gibt, da­mit man als Schrift­stel­ler sei­ne ei­gent­li­che Ar­beit tun könne.
Schlieβ­lich wird man nicht Schrift­stel­ler, um sich dann zu recht­fer­ti­gen, dass man ei­ner ist. Wo­bei die­se Recht­fer­ti­gung kei­ner­lei Schwie­rig­kei­ten be­rei­ten wür­de. Ei­gent­lich wird sie so­wie­so durch die Pra­xis des Schrei­bens ge­leis­tet. Es gilt klar­zu­ma­chen, dass der Schrift­stel­ler un­ei­gen­nüt­zig und bei kla­rem Ver­stand ist. Dass sei­ne Be­gehr­lich­keit im­mer Stell­ver­tre­ter-Ge­fech­te sind. Er schreibt nicht, weil ihm et­was fehlt, son­dern weil er fest­stellt, dass der Mensch­heit zu vie­les vor­ent­hal­ten wird.
Ein Schrift­stel­ler ist ei­gent­lich im­mer in der Of­fen­si­ve. In dem Mo­ment, da der Schrift­stel­ler sei­ne Funk­ti­on er­kennt und ak­zep­tiert hat, muss er sich sei­ne Zeit und sei­ne En­er­gie ge­flieβent­lich ein­tei­len. Er will ja nicht nur Geld ver­die­nen, son­dern vor al­lem auch ge­hört wer­den. Ab­leh­nung kann ihn trot­zig ma­chen, aber nicht stär­ker. Mit Nütz­lich­keits-er­wä­gun­gen al­lein kommt man der Zweck­be­stim­mung der Schrift­stel­le­rei nicht bei. Schrift­stel­ler blei­ben – im rich­tig ver­stan­de­nen Sin­ne – im­mer Pa­ra­si­ten in Ge­sell­schaf­ten, die auf Ka­pi­tal oder Ideo­lo­gie ge­trimmt sind. Die Ge­sell­schaft muss ihre Mah­ner und War­ner mit­fi­nan­zie­ren – an­ders geht es nicht. Schrift­stel­ler sind auf So­li­da­ri­tät und In­ter­ak­ti­on an­ge­wie­sen. Von Sei­ten der Ge­sell­schaft und auch untereinander.

Der Schriftsteller als Künder und Utopist

Da­mit sich je­der Schrift­stel­ler mög­lichst um­fang­reich sei­ner ei­gent­li­chen Auf­ga­be wid­men kön­ne (näm­lich: dass das Le­ben an­ge­neh­mer wer­de), be­darf es wahr­schein­lich ei­ner in­ter­ak­tio­nis­ti­schen Sub­li­ma­ti­ons­pro­phy­la­xe. Was so kom­pli­ziert klingt, ist in rea­li­ter et­was ganz Ba­na­les: die Schrift­stel­ler müs­sen in ge­wis­ser Wei­se zu­sam­men­hel­fen, dass ihr Schrei­ben nicht nur die Frus­tra­ti­on über be­stimm­te Zu­stän­de ar­ti­ku­liert, son­dern dass es sich dar­um be­müht, Ur­sa­chen auf­zu­de­cken und Stra­te­gien mit­zu­ent­wi­ckeln hilft, die Ur­sa­chen für Miss­stän­de zu er­ken­nen und zu be­sei­ti­gen. Dar­über hin­aus ist der Schrift­stel­ler Kün­der und Ge­burts­hel­fer von Uto­pien. Dass man sich über Uto­pien ver­stän­digt, ist ei­gent­lich selbst­ver­ständ­lich. Die Schrift­stel­ler kön­nen dies in Es­says tun – oder eben in Ge­dich­ten! Dies klingt in sich auch uto­pisch. Ist es aber viel we­ni­ger als not­wen­di­ger­wei­se praxisorientiert.
War­um soll­te nun ge­ra­de ein Ge­dicht in­ter­ak­tio­nis­tisch und so­gar pro­phy­lak­tisch wir­ken kön­nen? Und dies zu­nächst nur oder auch so­gar per­so­nen­be­zo­gen im Rah­men der schrift­stel­le­ri­schen Be­dürf­tig­keit. In je­dem Fal­le stellt ein Ge­dicht et­was fest. Bringt et­was auf ei­nen Aus­druck. Macht et­was, das nur für ei­nen auf­fäl­lig war, für vie­le auf­fäl­lig. Lädt zu sich ein. Zu ei­ner Be­schäf­ti­gung, ei­nem Sich-Ein­las­sen. Wenn dies meh­re­re tun, ist schon der ers­te Schritt zur In­ter­ak­ti­on getan.

Kein Text ist wirkungslos

Dass man dann Tex­te be­spricht, wäre der zwei­te Schritt. Dass ei­nem die Tex­te selbst und das Spre­chen dar­über hel­fen könn­te, führt un­mit­tel­bar zur Pro­phy­la­xe. Kein Text ist wir­kungs­los. Eben­so­we­nig wie ein Um­gang mit Tex­ten. Der Schrift­stel­ler hilft sich selbst am meis­ten, wenn er an­de­ren hilft. Le­sern oder Schrift­stel­ler­kol­le­gen. Es geht ja dar­um, Sub­li­ma­ti­on und de­ren Ver­ur­sa­chung zu ver­mei­den. Wem es tat­säch­lich nur um Sub­li­ma­ti­on gin­ge, der dürf­te nicht schrei­ben. Es ist nicht le­gi­tim, an­de­re mit den ei­ge­nen De­fi­zi­ten und Frus­tra­tio­nen zu be­läs­ti­gen. Wer schreibt, muss et­was zu ge­ben ha­ben. In ei­nem Ge­dicht kon­zen­triert sich je­weils ein An­ge­bot, wel­ches zu ei­ner Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Per­spek­ti­ve bei­trägt. Die wirk­sams­te sub­jek­ti­ve Sub­li­ma­ti­ons­pro­phy­la­xe ist das Auf­zei­gen ei­ner ob­jek­ti­vier­ba­ren, plau­si­blen Perspektive.
Der Au­tor muss also „ins Ma­nu­skript ein­tre­ten“, wenn er sich und sei­nen Le­sern et­was Kon­kre­tes an­bie­ten will. Die gan­ze Ver­herr­li­chung der as­so­zia­ti­ven Schreib­wei­sen in Ly­rik und Pro­sa führt letzt­end­lich auch zur Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, was die Schreib­ab­sicht an­be­trifft. Die mehr oder we­ni­ger lo­gi­sche Kon­se­quenz dar­aus ist die Frus­tra­ti­on bei Au­tor und Le­ser. Es ist so­zu­sa­gen die Mul­ti­pli­ka­ti­on ei­ner ur­sprüng­lich beim Au­tor emp­fun­de­nen Frus­tra­ti­on zu ei­nem Pro­dukt im dop­pel­ten Sin­ne. Nicht nur der Le­ser, auch der Au­tor ist hier zu bedauern.

Warum fehlt der Mut, den „positiven“ Menschen zu zeigen?

Die Fra­ge nach der Al­ter­na­ti­ve ist hof­fent­lich le­gi­tim. Und eine Be­ant­wor­tung möge nicht an­maβend emp­fun­den wer­den. Es ist im Grun­de ganz ein­fach: Ein Au­tor, der „nichts zu sa­gen“ hat, soll­te auch nicht schrei­ben. Wer dar­über hin­aus nur zur ei­ge­nen Sub­li­ma­ti­on schreibt, um an­de­ren den Vor­gang der Sub­li­ma­ti­on als oh­ne­hin un­ver­meid­lich schmack­haft zu ma­chen, ver­sün­digt sich qua­si an den Mög­lich­kei­ten des Schreibens.
Schrei­ben soll­te dazu die­nen, Sub­li­ma­ti­ons­an­läs­se von vorn­her­ein zu ver­mei­den, eben pro­phy­lak­tisch wirk­sam zu wer­den. In­di­vi­du­el­le Exis­tenz, ge­sell­schaft­li­ches Zu­sam­men­le­ben und die dar­aus er­wach­sen­den bzw. dar­auf be­zo­ge­nen Äuβe­rungs­for­men von Men­schen – z.B. eben auch das Schrei­ben – kön­nen kei­nem vor­neh­me­ren Zweck die­nen, als Ent­täu­schun­gen zu ver­mei­den, statt sie zu ri­tua­li­sie­ren. Der Ty­pus des „Ver­sa­gers“ muss wie­der aus un­se­ren Köp­fen und aus der Li­te­ra­tur ver­schwin­den, weil er als Ori­en­tie­rungs­fi­gur in den Fa­ta­lis­mus führt.
War­um fehlt uns der Mut, den „po­si­ti­ven“ Men­schen zu zeigen? ♦


Karl-Heinz Schrei­berKarl-Heinz Schreiber
Geb. 1949 in Werneck/BRD, zahl­rei­che Buch-, An­tho­lo­gie- und Ma­ga­zin-Ver­öf­fent­li­chun­gen von Ly­rik, Pro­sa und Es­says, Her­aus­ge­ber  von „Kult – Ma­ga­zyn fyr Netz­werk-Poe­sy“, leb­te und ar­bei­te­te in Goldach/BRD, ver­stor­ben 2014

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Ein Kommentar

  1. Sehr ge­ehr­ter Herr Schreiber.

    Ver­ste­he ich sie rich­tig, dass man nicht schrei­ben soll, um sei­ne se­xu­el­le En­er­gie in eine schöp­fe­ri­sche Tä­tig­keit um­zu­len­ken, son­dern um (pro­phy­lak­tisch) erst gar kei­ne Lust auf­kom­men zu lassen?

    Freund­li­che Grüße
    Wolf­gang Kais

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