Karl Gross: Schach-Drama (Humoreske)

Das Drama des unbegabten Schachlehrers

Karl Gross

Seit eini­gen Wochen schlich ich um die Ein­lö­sung eines ver­ma­le­dei­ten Ver­spre­chens herum: Meine Schwä­ge­rin hatte mir im Rah­men einer Gross­fa­mi­li­en­zu­sam­men­füh­rung (Mut­ters 79. Geburts­tag) stolz berich­tet, dass ihr Jüngs­ter (7) ange­fan­gen habe, Schach  zu spie­len und auch die Schach AG der hie­si­gen Grund­schule fleis­sig besu­che. Sie bat mich, doch mal in Kürze gegen den Klei­nen eine Par­tie zu spie­len. Er würde sich sehr dar­auf freuen, und sie habe ihm auch fest ver­spro­chen., dass ich dies gerne machen würde…
Ich hatte vage – ver­le­gen lächelnd – zuge­stimmt, da ich dies als meine Onkel­pflicht erach­tete. “Ja, ja, wenn ich mal Zeit habe, gerne, na klar, das freut mich sehr, dass der Kleine tat­säch­lich Schach ler­nen will, da kann ich ihm viel­leicht ein wenig hel­fen” usw. Und ich fügte mit kräf­ti­ger Beto­nung hinzu: “Das Wich­tigste beim Schach ist, dass man das Ver­lie­ren lernt!”  – Damit hatte ich – eher unbe­wusst – einen Kon­tra­punkt zu der immens ver­wöh­nen­den Erzie­hungs­pra­xis des Nef­fen­haus­halts markiert.

Nach eini­gen Wochen des Hin­hal­tens, Aus­wei­chens, Igno­rie­rens, erfolg­rei­chen Ver­drän­gens fuhr ich  unbe­schwert zu mei­ner Mut­ter, die gerade aus dem Urlaub heim­ge­kehrt war. Ich lauschte eben ihren son­nen­durch­tränk­ten Erin­ne­run­gen, als plötz­lich die Haus-Sirene schrillte. Ein Kind stand vor der Tür, das aus der Nach­bar­woh­nung  geeilt war, um den Onkel zu begrüs­sen. Der Kleine trug ein zusam­men­ge­klapp­tes Holz­schach­brett in Schul­ter­höhe tri­um­phie­rend vor sich.

Heute spie­len wir Schach! tönte ent­schlos­sen das helle Stimm­chen, und schon knallte das Brett auf den Kaffeetisch.
“Wir spie­len nebenan am gros­sen Tisch”, sagte ich kapi­tu­lie­rend und packte die Uten­si­lien unter den Arm. Schon öff­nete sich erneut die Tür, und die Mut­ter des Ele­ven und auch  mein Bru­der eskor­tier­ten das Schach­kind in den Spiel­saal.  Ich nahm im but­ter­wei­chen Ses­sel Platz, so dass mein Geg­ner  mir tat­säch­lich in Augen­höhe gegen­über sass.
Das gescheit(elt)e  kleine Köpf­chen mit den brau­nen Reh­au­gen hatte die Figu­ren regel­ge­recht auf­ge­stellt – ich bekam unge­fragt die schwar­zen Steine – und eröff­nete mit 1. e4. “Das spie­len die meis­ten”, schob er nach, bevor ich mein wei­te­res Vor­ge­hen struk­tu­rie­ren konnte. Nach­dem ich artig 1. – e5 ent­geg­nete, folgte spon­tan 2. a4.
Stolz äug­ten die Eltern auf wei­tere Arm­be­we­gun­gen  des Schach­schü­lers, die ich in bes­ter Onkel-Manier mit net­ten Lobes­wor­ten beglei­tete. Er hatte alle Bau­ern hin­ter­ein­an­der gezo­gen, und ich war gespannt, ob er auch die Offi­ziere ins Feld füh­ren könne. Tat­säch­lich, mit leich­ter Hilfe des Vaters, der das Pferd­chen aus dem Stall führte, und wei­te­ren Hilfs­ak­tio­nen  stan­den irgend­wann die Figu­ren auf dem Schach­brett herum.
Ich bewegte meine Figu­ren nur bis zur Mit­tel­li­nie, um kei­nen Scha­den anzu­rich­ten. Die bei­den Heere stan­den sich irgend­wann gefahr­los gegen­über, und ich wusste plötz­lich nicht mehr, wie ich die Har­mo­nie auf dem Brett bei­be­hal­ten konnte. Mein Bru­der schaute mich etwas ver­wun­dert an, da ich eine Sprin­ger-Gabel mit Damen­ge­winn “über­se­hen” hatte.
Reh­auge hüpfte vor Freude, die Zug-beglei­ten­den Lobes­worte der Eltern zeig­ten ihre Wir­kung, und auch ich kratzte mir sor­gen­voll die Stirn, staunte und froh­lockte ob der “tol­len” Züge des Eleven.
‹Das Wich­tigste beim Schach ist das Ver­lie­ren-Kön­nen›, schoss es mir plötz­lich durch den Kopf, und schon ent­lud sich in mir unge­schützt der gesamte Hass auf die ver­wöhn­ten Kin­der, auf die Eltern, die sich zum Per­so­nal ihrer klei­nen Herr­scher degra­die­ren las­sen, auf die gesamte Kin­der­gar­ten-und Grund­schul-Päd­ago­gik, die jah­re­lang schon für das blosse Ein-und Aus­at­men der Kin­der Best­no­ten verteilte…
Ich spielte auf ein­mal rück­sicht­los auf Gewinn, kom­men­tar­los. Die Eltern fin­ger­ten unbe­hol­fen  im weis­sen Lager herum. Der Kleine konnte kei­nen ein­zi­gen Zug mehr aus­füh­ren, ohne dass ihm der Arm, dann die Hand geführt wur­den. Diese Eltern wür­den ihr Leben geben, wenn sie dem Kind eine Nie­der­lage erspa­ren könnten.
Ich kapi­tu­lierte inner­lich: Mit Inbrunst führ­ten die Eltern die kind­li­che Zug-Hand, um mir nach­ein­an­der alle ver­blie­be­nen Leicht-, dann Schwer­fi­gu­ren abzu­luch­sen. Beide Eltern­teile durf­ten dann gemein­sam das Matt­netz, das wir alle zusam­men für mich geknüpft hat­ten, zuziehen:
“Und, was ist der Onkel jetzt?” krähte der Vater.
“Matt!!” schrie das Kind. ♦


Karl Gross - Schach-Satire - Glarean MagazinKarl Gross

Geb. 1951 am Nie­der­rhein, Magis­ter­stu­dium, danach als freier Über­set­zer und Tur­nier­schach­spie­ler unter­wegs, seit 14 Jah­ren als selb­stän­di­ger Buch­händ­ler und Orga­ni­sa­tor von Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen tätig, lebt in Düsseldorf/D

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Schach und Humor” auch von Wal­ter Eigen­mann: Das h6-Syndrom

… sowie zum Thema sati­ri­sche Kur­prosa über Roland Topor: Tragikomödien

Außer­dem im Glarean Maga­zin die Satire von Peter Biro: Der Exodus der Schachfiguren

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