Rainer Wedler: Ein Mann muss einen Bart haben (Satire)

Ein Mann muss einen Bart haben

Rainer Wedler

Schliess­lich nur noch Ste­reo­ty­pien. Der Bart ein sicht­ba­rer Punkt am Ende ei­nes lang­at­mi­gen, viel­fach ver­schränk­ten Satzes.
Aus­tra­li­schen Kän­gu­rus wur­de nicht auf die Sprün­ge ge­hol­fen. Die Scha­fe auf Neu­see­land blie­ben un­ge­scho­ren. Die Siam­kat­zen – ein be­son­de­rer Markt in Frank­reich – un­ge­züch­tet. Die Dis­ser­ta­ti­on über die Fort­schrei­bung des Ar­beits­rechts ein Zet­tel­grab. Der Ent­wick­lungs­hel­fer flog nicht nach Tansania.
Zum Bart hat­te er ge­hei­ra­tet. Hö­he­rer Dienst beim Fi­nanz­amt. For­mu­la­re, Stem­pel, Un­ter­schrif­ten, Mit­ar­bei­ter­mo­ti­va­ti­on, Kaf­fee­pau­sen, Un­zu­frie­den­heit. Alle zwei Jah­re eine Ge­halts­er­hö­hung, Audi, Fünf­zim­mer­kü­che­bad. Da­zwi­schen Ös­ter­reich, Spa­ni­en, auch Frankreich.
Die Woh­nung eine In­sze­nie­rung. Das meis­te vom Trö­del, der Rest von Romer.
Be­vor sie zu Bett gin­gen, nah­men sie gleich­sam alle Räu­me noch ein­mal ab. Hie und da wur­de ein Nip­pes nach vor­ne ge­rückt, ein Klein­od nach hin­ten, die alte Bi­bel in den rich­ti­gen Win­kel zum Sa­mo­war. Da­bei be­teu­er­ten sie sich ge­gen­sei­tig, wie schön sie es doch hätten.
An be­son­de­ren Aben­den mach­te er eine Fla­sche Ries­ling auf. Sie tran­ken ihn aus den Ju­gend­stil­glä­sern mit dem dün­nen grü­nen Fuss. Das Glas in der Hand, schrit­ten sie durch die Räu­me. Sie öff­ne­te die vol­len Schränke.
Sind wir nicht glücklich?
Sie hat es tat­säch­lich aus­ge­spro­chen. Er hat auf­ge­hört, sich dar­über auf­zu­re­gen. Viel­leicht woll­te er aber auch ein Gran Iro­nie heraushören.
Seit sie in Kunst mach­te, war er oft allein.
Das Kak­tus war sei­ne ers­te Pflan­ze. Er hat­te ihn aus ei­ner Lau­ne her­aus ge­kauft. Bald stand da­ne­ben ein zwei­ter auf sei­nem Schreibtisch.
In sei­nem Tes­ta­ment hat er fest­ge­legt und sich da­bei von ei­ner al­ten Inka-Weis­heit in­spi­rie­ren las­sen, man sol­le ihn mit dem Ge­sicht nach un­ten be­er­di­gen, da­mit er bei ei­nem Ver­such, sich frei­zu­gra­ben, nur im­mer tie­fer kom­men wür­de. Aus­ser­dem soll sei­ne To­des­an­zei­ge nur Vor- und Nach­na­men nen­nen und nur das Da­tum sei­nes To­des, nicht: In tie­fer Trau­er Ma­ri­an­ne Witt­lich, geb. Forster.
Sie hat­ten vie­le Jah­re mit­ein­an­der ge­lebt. Er konn­te nicht ein­mal sa­gen, dass es schlecht ge­we­sen war. Emo­tio­nen wa­ren ihm fremd.
War­um läuft Herr K Amok? Ein Freund hat­te ihn auf die­se Lö­sung hin­ge­wie­sen. Er konn­te ihn nicht ver­ste­hen. Si­cher­lich, es kränk­te ihn ein we­nig, dass sie zwei­mal die Wo­che sieb­druck­te, lin­ol­schnitt, töp­fer­te, dass sie fast eben­so oft zu den Re­dak­ti­ons­sit­zun­gen ei­nes klei­nen Eman­zen­blätt­chens – blau­er Klatsch­mohn oder so ähn­lich – fuhr. Am An­fang war er eher zu­frie­den. Er hoff­te, den run­den Couch­tisch nach und nach lee­ren zu kön­nen, da er es sich zum Prin­zip ge­macht hat­te, Bü­cher erst dann ins Re­gal zu stel­len, wenn er sie zu­min­dest kur­siv ge­le­sen hat­te. Al­les an­de­re wäre ihm als Ver­rat er­schie­nen. Da er aber stän­dig neue Bü­cher kauf­te, ka­men auf ein ge­le­se­nes schnell meh­re­re neue.
Er fühl­te sich so sehr ein­ge­engt, dass er ein­mal dar­an dach­te, alle Bü­cher auf der Stras­se zu ei­nem Schei­ter­hau­fen auf­zu­schlich­ten und sich an ih­rem Feu­er zu wär­men. Er wür­de vie­le Ben­zin dar­über schüt­ten. Die Sei­ten wür­den ver­kle­ben, ver­koh­len. End­lich frei sein.
Witt­lich dach­te auch an den Wannsee.
Zu den Kak­teen wa­ren im Lau­fe der Zeit ge­kom­men: Ques­ten­kraut, Män­ner­treu (ver­mee­ret den Mann­li­chen Saa­men), Nat­ter­wurz (ist gut für giff­ti­ge Biss), Meer­ret­tisch (macht Haar wach­sen), Huf­lat­tich (lö­schet ei­gent­lich alle in­ne­re Hitze) …
Der Efeu hat in­zwi­schen das Fens­ter vor sei­nem Schreib­tisch zu­ge­wu­chert. Der Ver­lust an Licht stör­te ihn nicht, da er oh­ne­hin nur nachts zum Le­sen kam. Das Käst­chen mit dem ge­schnitz­ten Dra­chen­boot, das der Gross­va­ter aus dem Ge­ne­ral­gou­ver­ne­ment mit­ge­bracht hat­te, muss­te als ers­tes wei­chen. Der Efeu schlang sich längst um die Bei­ne des Schreib­tischs. Witt­lich woll­te die Pflan­zen nicht stut­zen. Wenn er doch ein­mal schnitt, dann nur, um Setz­lin­ge zu gewinnen.
Wir wol­len kei­ne Kin­der, sag­ten sie, und sie sag­ten es im­mer öf­ter. Sie aber wuss­te, dass er log. Hat­te er nicht erst letz­te Wo­che ei­nem klei­nen Bu­ben Schnee­witt­chen vor­ge­le­sen und hat­te nicht be­merkt, dass er schon tot war? Er wuss­te nur noch nicht, wie er ster­ben würde.
Witt­lich liess sei­nen Bart un­ge­hemmt wu­chern, was die Nah­rungs­auf­nah­me schliess­lich so er­schwer­te, dass er sie im­mer mehr ein­schränk­te. Hin und wie­der klemm­te er ver­se­hent­lich den Bart in die Schub­la­de des Schreib­tischs. Es schmerz­te, wenn er auf­ste­hen wollte.
Die glei­chen In­ter­es­sen sei­en es ge­we­sen, die sie zu­sam­men­ge­führt hät­ten. Ein ver­spä­te­ter Bus hat­te sei­nen Puls nie schnel­ler ge­hen las­sen. Wenn du äl­ter wirst, spielt das, was sie Lie­be nen­nen, kei­ne Rol­le mehr, wenn es denn je eine Rol­le ge­spielt hat, pfleg­te er zu sagen.
Trotz­dem ab und zu das Be­dürf­nis, mit ei­ner Frau zu schla­fen. Die we­ni­gen Male zwi­schen den im­mer aus­ge­dehn­te­ren Pe­ri­oden, wo es ihr Zeit­plan er­laubt hät­te, ent­zog sie sich der ehe­li­chen Pflicht, wie sie den Vor­gang ganz un­iro­nisch nann­te, in­dem sie Kopf­schmer­zen, in wach­sen­dem Mas­se aber ideo­lo­gi­sche Grün­de vor­schob, die ihr die Sze­ne reich­lich lie­fer­te. End­lich konn­te sie ar­gu­men­ta­tiv, wie sie wohl glaub­te, über­de­cken, dass sie nie ger­ne mit ihm ge­schla­fen hatte.
Wenn ihn die Au­gen schmerz­ten, setz­te er die Bril­le ab und ver­barg sein Ge­sicht in bei­den Hän­den, wie wenn er wei­nen wür­de. Wenn er wie­der auf­sah, ver­schwamm sein Ge­sicht im Ge­wirr der Pflan­zen. Er war Teil des grü­nen Sze­na­ri­os ge­wor­den. Um sich wie­der dar­aus zu lö­sen, setz­te er schnell die Bril­le wie­der auf.
Der Schreib­tisch war in­zwi­schen grün über­wu­chert. Je­des Mal, wenn er le­sen woll­te, muss­te er vor­sich­tig die emp­find­li­chen Trie­be von der Lam­pe pflü­cken. Je län­ger er sein Ge­sicht im Spie­gel des nächt­li­chen Fens­ters be­trach­te­te, des­to mehr ver­wirr­te sich der Bart mit den Sten­geln und Blät­tern. Ein­mal war sein Bild ganz ver­schwun­den. Die Ple­op­tik hät­te ihm die­ses Phä­no­men viel­leicht er­klä­ren kön­nen, ihm aber lag nicht an ei­ner Er­klä­rung. Es fas­zi­nier­te ihn, wie sich selbst ins Nichts auf­lö­sen konn­te, wie er in der Dun­kel­heit verschwand.
Nach die­ser Ent­de­ckung las er kein Buch mehr. Er be­herrsch­te jetzt die Tech­nik, sei­ne Au­gen so zu stel­len, dass er sich draus­sen im­mer mehr ver­flüch­tig­te. Schliess­lich ge­lang es ihm, die Dau­er, bis er wie­der auf­tauch­te , stän­dig zu verlängern.
Ob er es ge­plant hat­te, weiss niemand.
Je­den­falls liess ihn sei­ne Frau nach Ab­lauf der ge­setz­li­chen Frist für tot erklären. ♦


Rainer Wedler - Schriftsteller - Glarean MagazinRai­ner Wedler

Geb. 1942, nach dem Ab­itur als Schiffs­jun­ge in die Tür­kei, nach Al­ge­ri­en und West­afri­ka; Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik, Ge­schich­te, Po­li­tik, Phi­lo­so­phie, Pro­mo­ti­on über Bur­leys “Li­ber de vita”, zahl­rei­che Ly­rik-, Kurz­pro­sa- und Roman-Veröffentlichungen

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